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Drei Menschen stehen in der Natur und machen Atemübungen

"Gefühle bürsten"

Warum die psychiatrische Pflege so besonders ist

Sich wieder spüren

Mit Atemübungen, Chilipastillen, Wäscheklammer oder einer Bürste

Büsra Cerny sitzt direkt gegenüber von Bernd Müller am Tisch, im Raum ist es ruhig, die Sonne scheint durch das Fenster. Konzentriert blickt die 28-Jährige, die am LWL-Klinikum Gütersloh gerade eine Ausbildung zur Pflegefachfrau macht, dem Patienten direkt in die Augen.

Auf dem Tisch zwischen ihnen steht eine kleine, unscheinbare Kunststoffkiste – der sogenannte Skills-Koffer. Der Skills-Koffer ist ein Werkzeug, das Büsra Cerny gerne einsetzt. Es enthält Hilfsmittel wie Duftöle, Chilipastillen oder kleine Gegenstände, die Reize setzen oder einen leichten Schmerz erzeugen.

„Wir haben hier einige Dinge, die Ihnen helfen könnten, wenn die Anspannung steigt“, erklärt Büsra Cerny und öffnet den Koffer. Sie holt eine Haarbürste hervor. „Versuchen Sie mal, diese über Ihren Unterarm zu ziehen. Wie fühlt sich das an?“

Bernd Müller, der seine Emotionen schlecht regulieren kann und unter selbstverletzendem Verhalten und innerer Unruhe leidet, zögert kurz. Er nimmt die Bürste und führt sie vorsichtig über die Haut. „Das brennt ein bisschen, aber es ist irgendwie … gut“, sagt er zurückhaltend, als ob er nicht genau wüsste, ob seine Empfindung richtig sein kann. Büsra Cerny nickt bestätigend.

 „Die Hilfsmittel ermöglichen es vielen Menschen, sich zu spüren, ohne sich zu verletzen. Auf einer Skala von 0 bis 10, wie intensiv ist das?“ Bernd Müller denkt nach. „Vielleicht eine Zwei?“ Büsra Cerny lächelt ermutigend: „Das reicht wahrscheinlich noch nicht. Versuchen Sie doch einmal diese Wäscheklammer und klemmen diese vorsichtig an ein Ohr. Wie ist es nun?“ Der Patient schaut sie an. „Das ist eine sechs.“

Büsra Cerny nickt wieder. „Vielleicht ist das schon das Richtige, um Sie in Momenten, in denen Sie nicht wissen, wie Sie mit Emotionen umgehen sollen, abzulenken.“

„Manche glauben, wir spielen den ganzen Tag nur Uno mit den Patienten“

Die Ausbildungsleiterin Ilka Scholl, die neben den beiden mit am Tisch sitzt, hält sich im Hintergrund, beobachtet aber aufmerksam die Szene. „Sehr gut gemacht, Büsra“, lobt die Anleiterin die Kollegin nach der Behandlung. „Du hast genau die richtige Balance zwischen Anleitung und Eigenverantwortung des Patienten gefunden, zwischen Nähe und Distanz. Genau darum geht es in der psychiatrischen Pflege.“

Die Beziehung zwischen Pflegenden und Patientinnen oder Patienten ist ein wichtiger Teil der psychiatrischen Pflege, die oft mit Vorurteilen zu kämpfen hat. Ilka Scholl kennt sie alle: „Unsere Arbeit wird oft als weniger wertvoll angesehen. Manche glauben, wir spielen den ganzen Tag nur Uno mit den Patienten“, erzählt sie.

Tatsächlich sind Spiele gar nicht so selten, aber sie haben eine tiefere Bedeutung: „Sie fördern Konzentration, Feinmotorik und das Einhalten von Regeln. Gleichzeitig entsteht eine Beziehung zwischen Pflegenden und Patienten.“ Diese ist wichtig, da sie hilft, auch in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Etwas Ähnliches erlebte Ilka Scholl mit einer Auszubildenden, die mit einer Patientin mit Angststörung arbeitete. „Die junge Kollegin sagte mir, es sei nichts zu tun für sie. Doch als sie lernte dazusein und der Patientin Sicherheit zu geben, merkte sie, wie sie mit kleinen Dingen große Veränderungen erreichen konnte.“

Welche Menschen werden in der psychiatrischen Pflege gebraucht?

Für Ilka Scholl sind das Menschen, die offen sind, die eine positive Haltung  psychisch Kranken gegenüber haben. Und auch Typen, die etwas Besonderes sind, die gestanden sind und etwas ausstrahlen. 
 

Auf einem Tisch liegen verstreut Gegenstände, u. a. eine Bürste, Wäscheklammern, ein Beutel mit Murmeln und eine Plastikflasche mit Zitronensaft

Psychiatrische Pflege

So spannend und vielseitig wie kaum ein anderer Beruf

Im Gegensatz zur somatischen, also zur körperlichen Pflege, beschäftigt sich die psychiatrische Pflege mit der Betreuung und Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Um deren Lebensqualität verbessern zu können, brauchen die Pflegenden viel Einfühlungsvermögen und verständnisvolle Kommunikation. 

„Wir arbeiten hier viel intimer mit den Menschen, erfahren ihre Lebensgeschichten und unterstützen sie, wieder ein relativ normales Leben zu führen“, erklärt Büsra Cerny, die im Jahr 2024 ihre dreijährige Ausbildung zur Pflegefachfrau begonnen hat.

„Jeder Mensch ist anders, und das macht die Arbeit so spannend“, ergänzt sie und beschreibt, dass in der psychiatrischen Pflege auch auf den ersten Blick ganz einfache Tätigkeiten zum Gesundwerden dazu gehören können. „Ich arbeite zum Beispiel gerne mit den Patienten an der frischen Luft. Ein Spaziergang kann dabei helfen, Spannungen abzubauen.“

Fragen und Vorurteile

Die psychiatrische Pflege hat oft mit Vorurteilen zu kämpfen. Ilka Scholl kennt sie alle. Hier antwortet Sie auf drei zentrale Vorbehalte.

Pflege in der Psychiatrie ist doch Gedöns, da wird den ganzen Tag Uno gespielt und gequatscht.

Ilka Scholl: Wer jemals versucht hat, mit einem psychisch erkrankten Menschen Uno zu spielen, weiß wie herausfordernd das sein kann. Gesellschaftsspiele erfüllen wichtige therapeutische Ansätze. So wird u.a. die Konzentration, die Feinmotorik und das strukturelle Denken trainiert. Zudem kommt man als Pflegeperson mit den Menschen in Kontakt und kann intensiv an der Beziehung arbeiten. Die Patient:innen vertrauen sich Menschen, mit denen sie etwas positives Verbinden, eher an. In einer solchen vertrauensvollen Beziehung können dann wichtige Themen besprochen und gemeinsam Pflegemaßnahmen erarbeitet werden. Die psychiatrische Pflege ist ein hochkomplexes Arbeitsfeld, das nur durch ein gemeinsames Bündnis zwischen dem therapeutischen Team und den Betroffenen wirken kann. Kommunikation ist hier der Schlüssel. Sie kann motivieren, aufbauen, trösten, begrenzen, Sicherheit bieten, Freude bringen und vieles mehr.

Was können somatische Pflegekräfte aus der Psychiatrie lernen?

Ilka Scholl: Das Besondere in der psychiatrischen Pflege ist die zugewandte Haltung, die Akzeptanz der Menschen und das Ausleben kreativer und individueller Pflegemaßnahmen. Daher können auch somatische Pflegekräfte einen Ansatz zur "radikalen Akzeptanz" lernen und den generellen Umgang mit Menschen, die auf Bedarfe nicht mehr vollkommen rational reagieren können. Hier können die Pflegenden üben, wie man mithilfe von Gesprächsführung Maßnahmen und Inhalte vermitteln kann, welche Strategien es gibt, die Menschen zu versorgen und welche Strukturen für Menschen mit kognitiven Einschränkungen in welcher Form angepasst werden können. 

Die Psychiatrie bietet vielfältige therapeutische Ansätze, die für Menschen in unterschiedlichen Phasen der Krankheitsbewältigung hilfreich sein können.

Sollten somatische und psychiatrische Pflege in der Ausbildung getrennt werden?

Ilka Scholl: Auf gar keinen Fall! Menschen, die Hilfe suchen, müssen immer ganzheitlich betrachtet werden. So kann ein Mensch mit einem Beinbruch genauso eine psychische Krise erleben, wie Patient:innen in der Psychiatrie. Sowohl im somatischen, als auch im psychiatrischen Arbeitsfeld brauchen Pflegende immer beides. Dementsprechend müssen Pflegende Grundlagen der Gesprächsführung, zu Pflegemaßnahmen und medizinischen Aufgaben in allen Settings beherrschen. Nach der Ausbildung findet dann eine Spezialisierung statt.

Daher wäre es aus meiner Perspektive deutlich sinnvoller, bei der Grundausbildung zu bleiben und danach eine Fachpflegeausbildung für alle Fachbereiche verpflichtend anzubieten. Hier arbeiten Pflegende in ihrem Fachbereich und erhalten parallel dazu strukturierte theoretische Inhalte, die mit der konkreten Versorgung der Menschen in dem jeweiligen Setting gefestigt wird. Angelehnt an die Facharztausbildung sollten die Pflegenden ein gewisses Maß an Pflichtstunden im jeweiligen Gebiet vorweisen können.

“Menschen, die aus der Bahn geworfen wurden, wieder ein bisschen Struktur geben“

Büsra Cerny hat sich für die Ausbildung in der psychiatrischen Pflege entschieden. Im Video erzählt sie, wie sie Patient:innen hilft, sich wieder selbst zu spüren und Panikattacken vorzubeugen. Und wie Reize wie Druck, Bürsten oder Schärfe dabei helfen.

Ilka Scholl schließt mit einem Fachbuch eine Lücke in der Ausbildung

Ilka Scholl hat nach ihrer eigenen Ausbildung zur Pflegefachfrau in Bielefeld und Vallendar Pflegewissenschaften studiert und bei einem Forschungsprojekt zum Thema gearbeitet. Nach einigen Jahren als Pflegefachfrau und in ihrer Funktion als Ausbilderin für Pflegefachkräfte hatte sie damit zu kämpfen, dass es viel zu wenige klar umrissene Übungen in der psychiatrischen Pflege gab.

Die Pflegewissenschaftlerin, die es gewohnt ist, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, zögerte nicht lange: Sie schrieb ein Buch mit dem Titel „Arbeits- und Lernaufgaben für die psychiatrische Pflege“, das 2024 veröffentlicht wurde. Ilka Scholl entwickelte es gemeinsam mit ihrem Team aus 14 hauptamtlichen Praxisanleitenden, um angehenden Pflegefachkräften zu helfen, sich in herausfordernden Momenten der psychiatrischen Pflege zurechtzufinden.

Alle 22 Lernaufgaben sind didaktisch aufgebaut und am Gütersloher LWL-Klinikum praktisch erprobt. Sie funktionieren in unterschiedlichen Aufgabenbereichen, etwa in der Eingliederungshilfe, der ambulanten Versorgung, der Erwachsenen- oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Erschienen ist das Buch in der „Better Care“-Reihe des Psychiatrie-Verlags. Es wird ergänzt durch Downloadmaterial in Form von Arbeitsblättern, die die praktische Umsetzung der Lernaufgaben erleichtern.