„Diktatur und Krieg sind nicht plötzlich da.“
„Sie schleichen sich langsam in das Leben der Menschen ein.“
Tagebücher von Renate, 11 Jahre alt, aus Münster
Renate Brockpähler aus Münster führte ab ihrem 11. Lebensjahr von 1938 bis 1946 Tagebuch. In den Beobachtungen der Jugendlichen mischen sich Alltag und NS-Zeit. Sie zeigen, wie ein junger Mensch die Zeit des Zweiten Weltkriegs empfunden hat – und wie sich Krieg und Diktatur langsam in das Leben eingeschlichen haben.

Wer war Renate Brockpähler?
Renate Brockpähler (geb. 1927, gest. 1989) war die Tochter des Heimatforschers Wilhelm Brockpähler. Sie studierte Volkskunde, Musikwissenschaft und Germanistik in Münster und arbeitete bereits als Studentin bei der Volkskundlichen Kommission für Westfalen – der heutigen LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen. Sie promovierte zur Geschichte der Barockoper in Deutschland und leitete später das Archiv für westfälische Volkskunde der Kommission.
Aus den Tagenbüchern
„Die Eintragungen zeigen hier die persönliche Perspektive auf das, was anderswo nur in Statistiken und Zahlen überliefert ist.“
Niklas Regenbrecht, Historiker bei der LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen in Münster, bereitet die Tagebücher auf. Er hat sie gelesen, eingescannt, transkribiert und kommentiert, um daraus eine Quellenedition für die weitere Forschung zu veröffentlichen – auch mit Erklärungen von unbekannten Begriffen und historischem Kontext.
August 1939
„Heute war ein schöner Tag. Wir gingen mit Tante Clärchen in die Stadt. Während sie Besorgungen machte, gingen wir in den Film: 'Der Westwall' und 'Drei Unteroffiziere'. Das war vielleicht tofte. Als wir wieder herauskamen sahen wir viele Lastautos. Tante Clärchen sagte, daß alle Besitzer ihre Autos abgegeben müßten für Soldaten. Wir gingen auch noch in den Eispalast. Das Wasser läuft mir im Munde zusammen, wenn ich daran denke. Alle Sorten von Eis gab es da. Hm, das war mal lecker!!“
September 1939
10. September 1939
„Heute Nacht schreckte ich plötzlich aus dem Schlaf empor. Was war das? Die Sirene heulte! 'Die verfluchten Engländer!' Mit diesen Worten sprang ich aus dem Bett. Da hörte ich unten auch schon Stimmen. 'Mutti, die Sirene!', heulte Wolfgang. Verstört ergriff ich meine Kleider. Den Unterrock und einen Strumpf verlor ich unterwegs. Ich raste mit Volldampf in den Keller. Hu, da war es aber kalt! Bald war die ganze Familie zusammen. Wir setzten uns auf eine Kiste und lauschten angestrengt, ob wir nicht Flugzeuggeräusche hörten. Aber bald kam die Entwarnung und wir krochen selig wieder in die warmen Federn! Ob das wohl Engländer oder Franzosen waren, Polen auf keinen Fall!“
April 1940
Sonntag. 21. April 1940
„[Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt] D. O. K. W. g. b.: Ein feindliches Flugzeug warf am 19. 5 Bomben ab (auf Narvik) ohne Schaden anzurichten. Die Zahl der erbeuteten Waffen beträgt ungefähr: 180 Geschütze + 300 M.G.s. Ein britischer Kreuzer u. Truppentransporte wurden angegriffen, und erhielten Volltreffer. Heute war wunderschönes Wetter, die Sonne schien heiß; über Nacht waren viele Blumen aufgeblüht. Ich ging mit Wolf in den Kindergottesdienst!“
Die junge Autorin übernimmt hier Passagen aus dem Wehrmachtsbericht, der sich vom heutigen historischen Wissen unterscheidet.
November 1944
22.11.1944
„Am 18.11. war wieder ein Angriff. Nun genügt dies allein ja schon, um eine nicht gerade rosige Stimmung hervorzurufen, doch kam noch etwas dazu, was auch den stärksten Optimisten erschüttern mußte: der Schützenhofbunker hat nicht gehalten! Ich muß sagen, das traf mich wie ein Schlag! Alles durfte kommen, nur das nicht! Sind doch die Bunker im wahrsten Sinne des Wortes die einzige Hoffnung derer, die noch hier in unserer Frontstadt sind. […] Wenn die Bunker nicht mehr halten, dann ist es aus!“
Mai 1945
6.5.1945
„Denn es ist wirklich das erste Mal, das ich mich mit einer Zukunft befassen muss, die nach der Niederlage Deutschlands, nicht nach dem Siege steht, an den ich, das merke ich jetzt, immer geglaubt habe. Denn wenn auch da ein Unterschied ist zwischen der begeisterten Patriotin vom Kriegsanfang, die sich übermütige Friedensfeste ausmalte und dem hartnäckigen Verteidiger des Guten an der ganzen Sache, so ist dies doch etwas, an das man nie zu denken wagte u. was man in seiner ganzen Tragweite bestimmt noch nicht begreift. Oder empfindet man es nicht so ungeheuerlich, weil man schon abgestumpft ist, oder ist wirklich alles schon durchgekämpft im Innern?“
„Wir können die Jahre der NS-Zeit natürlich nicht mit dem Erstarken antidemokratischer Kräfte heute vergleichen. Aber wir sehen doch, wie sich bestimmte Entwicklungen in den Alltag von jungen Menschen einschleichen können.“
Niklas Regenbrecht, Historiker
Die LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen
Die Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen ist eine von sechs wissenschaftlichen Kommissionen für Landeskunde des LWL.
Die 1928 unter dem Namen Volkskundliche Kommission gegründete Kommission erforscht und dokumentiert das alltägliche Leben und seine kulturellen Ausdrucksformen, zum Beispiel Arbeit, Wohnen, Nahrung, Brauch, Glaube, Erzählung, Freizeit. Dabei arbeitet sie historisch und gegenwartsorientiert.