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Durch die Sicherheitsschleuse zu Papa

Wie Kinder den Kontakt zu einem Elternteil im Gefängnis halten können

Wann kann ich Papa besuchen gehen?

Paul merkt schon länger, dass zuhause etwas nicht stimmt. Der Siebenjährige spürt die gedrückte Stimmung, seine Mutter ist oft traurig und gestresst. Auch sein Vater verhält sich anders, ist still. Bis er an einem Donnerstag nicht von der Arbeit nach Hause kommt.

Paul wartet beim Abendessen auf ihn, fragt seine Mutter, warum der Vater nicht da ist. Sie antwortet ausweichend: „Papa hat eine neue Arbeit in den Niederlanden. Da muss er viel arbeiten und hat keine Zeit anzurufen oder zu schreiben.“ Doch Paul merkt sofort, dass an dieser Geschichte etwas nicht stimmt. Paul fühlt sich traurig, fragt sich, ob er selbst etwas falsch gemacht hat, und warum sein Papa sich nicht bei ihm meldet.

Erst nach einigen Wochen rückt die Mutter mit der Wahrheit heraus. Der Vater wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er wegen seiner Spielsucht Gelder in seiner Firma veruntreut hatte. Eine Geschichte, die für Paul schwer zu begreifen ist. Seine erste Frage ist aber ganz einfach: „Wann kann ich Papa besuchen gehen?“

Paul ist kein Einzelfall

Rund 100.000 Kinder in Deutschland leben in einer ähnlichen Situation. Ein Elternteil, manchmal auch beide, sitzt im Gefängnis – und Kontakt zu halten ist nicht einfach.

In der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede arbeitet Sozialarbeiterin Nina Roland daran, für Kinder wie Paul die schlimme Situation zu verbessern. 

Dort sind mit Stand August 2024 offiziell 242 Kinder unter zehn Jahren und 219 Kinder im Alter von elf bis 17 Jahren betroffen, deren Elternteile inhaftiert sind, sagt die Sozialarbeiterin, die seit zwei Jahren den Familienschwerpunkt der JVA leitet. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer höher, da nicht alle Inhaftierten ihre Kinder angeben oder die Kinder aus anderen familiären Konstellationen stammen, erklärt sie.

„Bei männlichen Inhaftierten bleibt oft die Beziehung zur Familie bestehen, da viele in einer Partnerschaft leben. Im Gegensatz dazu sind weibliche Inhaftierte häufig alleinerziehend, was oft zur Fremdunterbringung der Kinder führt.“

Illustration eines Jungen, der von zwei Frauen durch eine Sicherheitsschleuse geleitet wird. Die eine Frau hat "Justiz" auf ihrer Kleidung stehen.

Immer dem Eichhörnchen nach

Die JVA Bielefeld-Brackwede geht die Herausforderung, kindgerechte Besuche zu ermöglichen, schon am Eingang an. Nach der Kontrolle, die an einen Flughafen erinnert, folgen die Kinder mit ihrer Begleitperson den gemalten Pfotenabdrücken eines Eichhörnchens und eines Raben auf dem Boden. Diese leiten den Weg in einen kindgerecht gestalteten Besucherraum.

Ein Junge sitzt mit seinem Vater am Tisch und sie lesen ein Buch. Im Raum steht ein Sofa. Es gibt ein Regal mit unterschiedlichen Spielsachen.

Ein Stück Normalität in einer schwierigen Situation

Der Raum wirkt warm und einladend: Eine bunte Tapete, eine Kuschelecke mit Plüschtieren, ein kleines Sofa und ein Maltisch auf Kinderhöhe.

„Wir wollen, dass sich Kinder hier sicher und wohl fühlen. Das gilt auch für die Familien: Wir haben auch einen Raum eingerichtet, der einem möblierten Appartement gleicht. In Form von Langzeitbesuchen können Familien dort beispielsweise zusammen kochen, backen oder einfach ein Gesellschaftsspiel spielen“, sagt Nina Roland. „So schaffen wir ein Stück Normalität in einer schwierigen Situation.“ Sie macht aber auch deutlich, dass es damit nicht getan ist. „Nicht alle Elternteile möchten, dass ihre Kinder das Gefängnis betreten. Manche fürchten, dass das Stigma die Kinder belastet.“ 

Die Justizvollzugsanstalten stehen dabei vor erheblichen Herausforderungen: Es gibt zu wenig Personal, um mehr Besuche zu ermöglichen, und die zeitlichen Kapazitäten sind stark eingeschränkt. Oft sind die Besuchsräume bereits zu Monatsbeginn ausgebucht, und spontane Umbuchungen, etwa bei Krankheit eines Kindes, sind kaum möglich. Gleichzeitig erschweren lange Anfahrtswege und finanzielle Belastungen die Besuche. „Dennoch profitieren die Kinder emotional und psychisch vom Kontakt mit den inhaftierten Eltern“, sagt Nina Roland. „Studien zeigen, dass der Kontakt auch die Resozialisierung der Inhaftierten fördern kann.“ 

Neue familienfreundliche Konzepte

Die JVA Bielefeld Brackwede ist eine von sieben Familienschwerpunktanstalten in Nordrhein-Westfalen. Seit 2020 entwickeln diese familienfreundliche Konzepte, um Kindern wie Paul den Kontakt zu ihren inhaftierten Eltern zu erleichtern. 

Zitat von Jutta Möllers: „Die Kinder inhaftierter Eltern sind nicht verantwortlich für die Straftaten ihrer Eltern."

Bewegung in das Thema kam im Jahr 2018, auf Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention und Empfehlungen des Europarats. In Nordrhein-Westfalen wurde 2023 die Landesfachstelle „Netzwerk Kinder von Inhaftierten“ gegründet. Sie wird von der Auridis Stiftung gefördert und von den Landschaftsverbänden Westfalen-Lippe (LWL) und Rheinland (LVR) getragen. Gleichzeitig ist sie Teil einer bundesweiten Initiative, die in sechs Bundesländern ähnliche Fachstellen eingerichtet hat. „Mit den drei Modellanstalten JVA Bielefeld-Brackwede sowie Willich I und Willich II wollen wir familienfreundliche Maßnahmen testen und Best-Practice-Ansätze für andere Haftanstalten entwickeln“, sagt Jutta Möllers. „Wir wollen Vernetzungsstrukturen zwischen Justizvollzug, Jugendhilfe und freien Trägern erproben und schrittweise in ganz Nordrhein-Westfalen ausbauen und zudem Fachkräfte sensibilisieren und qualifizieren.“

Vorbehalte und Befürchtungen abbauen

Für Jutta Möllers, Mitarbeiterin des LWL-Landesjugendamtes, ist das Thema ein Herzensanliegen. „Die Kinder inhaftierter Eltern sind nicht verantwortlich für die Straftaten ihrer Eltern. Sie leiden jedoch unter den Konsequenzen dieser Taten und benötigen besondere Unterstützung, um trotz ihrer Lebenslage ein gutes Leben führen zu können – und das vor, während und nach der Inhaftierung.“

Dazu kommt, dass viele Eltern ihre Kinder nicht über die Inhaftierung informieren, weil sie diese vor der schmerzhaften Wahrheit schützen wollen. „Viele Eltern können das aber nur schwer dauerhaft verbergen, denn Kinder haben feine Antennen“, sagt Jutta Möllers. „Deswegen ist es wichtig, offen mit dem Thema umzugehen, Kinder bei der Bearbeitung zu unterstützen und sie vor Ausgrenzung und Stigmatisierung zu schützen.“

Die Fachstelle hat dazu den Ratgeber „Elternteil in Haft – Wie sage ich es meinem Kind?“ veröffentlicht. Außerdem stellt sie weitere Infomaterialien für Kinder, Eltern und Fachkräfte bereit, wie zum Beispiel Flyer und Büchlein wie „Mama muss ins Gefängnis“ oder „Papa muss ins Gefängnis“, die auch online barrierefrei zugänglich sind. „Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit wollen wir Vorbehalte und Befürchtungen abbauen“, sagt Jutta Möllers. 

Neue Maßnahmen in der JVA Bielefeld-Brackwede

Auch in der JVA Bielefeld-Brackwede sind weitere Maßnahmen geplant. „Der regelmäßige Austausch mit Kindern erleichtert es den Inhaftierten, in ein stabiles soziales Umfeld und dementsprechend auch die Gesellschaft zurückzukehren. Das möchten wir so angenehm wie möglich gestalten“, sagt Nina Roland.

„Außerdem planen wir Audiohilfen einzusetzen, wie zum Beispiel einen ,Tonie‘. Dieser erklärt den Kindern, was sie bei ihrem Besuch erwarten können." Für Paul und viele andere Kinder sind diese Besuche ein Anker in einer Zeit ohne Vater oder Mutter. Ein familienfreundlicher Strafvollzug in NRW macht Hoffnung, dass trotz aller Widrigkeiten die Verbindung zu den Eltern bestehen bleibt – und dass eines Tages wieder Normalität einkehren kann.