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Portrait: Till Martenka mit Sonnenbrille

„Ich wollte raus, eine eigene Wohnung, ein eigenes Leben“

Till Martenka lebt selbstständig in einer barrierefreien Wohnung – dank intensiver ambulanter Unterstützung.
Wie das funktioniert, zeigt ein Blick in seinen Alltag.

Ein junger Mann mit Sonnenbrille im Rollstuhl zieht eine Bio-Mülltonne.

Selbstständigkeit

Castrop-Rauxel, ein früher Vormittag.Die Straße ist noch leer, ein paar Autos gleiten vorbei. Auf dem Gehweg, direkt vor einem barrierefreien Mehrparteienhaus, zieht ein Mann im Rollstuhl eine Mülltonne zur Straße. Das klappt nicht ganz elegant, manchmal ruckelt es – aber Till Martenka lässt sich nicht beirren. Für ihn ist dieser Handgriff mehr als Routine. Er bedeutet Selbstständigkeit.

„Ich will das alleine machen“, sagt er über sein Smartphone, das er als Sprachassistenten nutzt. Der 33-Jährige hat eine spastische Tetraparese, die ihn körperlich einschränkt und sich auch auf seine Sprache auswirkt.

Till Martenka stellt sich vor:

Ein junger Mann im sitzt im elektrischen Rollstuhl vor dem Eingangsbereich eines Mehrfamilienhauses.

Seine Wünsche. Seine Stärken. Sein Tempo.

Was den jungen Mann vor allem auszeichnet, ist sein starker Wille, unabhängig zu sein. Dass er heute in einer eigenen Wohnung lebt, mit Assistenz nach Bedarf, hat er sich selbst erarbeitet. Früher wohnte Till Martenka bei seinen Eltern. Die Familie hat ihn immer unterstützt – aber irgendwann wollte er mehr. „Ich wollte raus. Eine eigene Wohnung, ein eigenes Leben“, sagt er. Heute lebt er im Rahmen des intensiv ambulant betreuten Wohnens (IAW), eine Wohnform, bei der der Mensch im Vordergrund steht, seine Wünsche, seine Stärken, sein Tempo.

Das Konzept des intensiv ambulant betreuten Wohnens richtet sich an Menschen mit komplexem Hilfebedarf. In vielen Fällen wäre für sie früher eine stationäre Wohnform  wie ein Heim vorgesehen gewesen. Doch das IAW-Modell geht einen anderen Weg: Die Menschen wohnen allein, zu zweit oder in WGs. Die notwendige Unterstützung wird ambulant, individuell und flexibel erbracht.

Katharina Flick zum Wohnkonzept:

Eine junge Frau und eine junger Mann im Rollstuhl unterhalten sich fröhlich.

Hilfe nach Bedarf

„So viel Hilfe wie nötig, so viel Selbstständigkeit wie möglich“, bringt es Katharina Flick auf den Punkt. Die Heilpädagogin und Regionalleiterin der Lebenshilfe in Castrop-Rauxel begleitet mit ihrem Team Menschen wie Till Martenka. Finanziert wird ihre Arbeit über die sogenannte Eingliederungshilfe, bei dem jungen Mann sind es insgesamt 17 Assistenzleistungs- und Fachleistungsstunden. Das Besondere: Die Leistungen – etwa für Haushalt, Freizeitgestaltung oder Alltagsbewältigung – werden maßgeschneidert. Bei Bedarf kommt ein Pflegedienst zusätzlich hinzu. In dem lebendigen und inklusiven Wohnumfeld ist so für die Bewohnerinnen und Bewohner der Lebenshilfe rund um die Uhr jemand erreichbar – nicht im klassischen Schichtsystem, sondern im sogenannten Pooling-Prinzip. Die Stunden für Assistenz werden gemeinschaftlich gebündelt.

„Niemand hier hätte mit seinen Einzelstunden genug Unterstützung, um ganz allein zurechtzukommen. Aber zusammen schaffen wir das“, erklärt Katharina Flick. Zwei bis drei Mitarbeitende sind in der Regel vor Ort, ein Servicebüro im Haus ist besetzt. Wer Hilfe braucht, klingelt, ruft an oder nutzt sein Handy, außerdem gibt es eine Nachtbereitschaft. So entsteht ein System aus individueller Hilfe und kollektiver Sicherheit – eine Sicherheit, die für viele ein entscheidender Faktor ist, um angstfrei leben zu können.

Der Weg in die eigene Wohnung

Till Martenka hat vor dem Einzug in die eigene Wohnung eine Art „Wohnschule“ absolviert, wie Katharina Flick erzählt. „Wir haben damals mit den zukünftigen Mieterinnen und Mietern ganz praktisch geübt: Wie organisiere ich meinen Einkauf? Wie trenne ich Müll? Was gehört zu einem selbstständigen Alltag dazu?“ Im Jahr 2017 zog Martenka dann in eine Wohngemeinschaft im Haus ein – ein Zwischenschritt. Nach fünf Jahren war klar: Das klappt. Er wagte den Sprung in eine eigene Wohnung – ein Apartment mit Dachterrasse, barrierefrei, lichtdurchflutet, mit eigener Küche und Assistenz auf Abruf.

Heute begleitet Katharina Flick Till Martenka bei einem Spaziergang zum Bäcker. Er bestellt seinen Kaffee selbst, über sein Smartphone. Die App liest seinen Wunsch vor. Die Frau, die ihn bedient, kennt ihn schon. Zurück zu Hause zeigt Till Martenka sein Sprachassistenz-System. Über 1.000 Textbausteine hat er vorbereitet – für Alltag, Small Talk, Social Media. Auf TikTok folgen ihm über 50.000 Menschen. Er postet dort mit Humor, Haltung und Selbstbewusstsein. Als sein Rollstuhl für das E-Rolly-Hockey, das er erfolgreich in der 2. Bundesliga spielt, nicht mehr funktionierte, startete er kurzerhand ein Crowdfunding. Mit Erfolg.

Auf einer Parkbank sitzt eine junge Frau und unterhält sich fröhlich mit einem jungen Mann, der im Rollstuhl direkt neben der Parkbank sitzt.

Freiheit

Jeden Werktag fährt Till Martenka zur Arbeit – in die Recklinghäuser Werkstätten. Dort übernimmt er Bürotätigkeiten, er liebt es, mit dem PC zu arbeiten. Morgens kommt ein Pflegedienst zur Unterstützung bei der Körperpflege, dann bringt ihn ein Fahrdienst ins Büro. Katharina Flick betont: „Genau das macht den Unterschied zum Heim. Die Leistungen werden nicht einfach 'mitgeliefert', sondern aktiv gewählt. Till weiß, was er braucht – und was nicht.“

Das IAW-Modell wird stetig weiterentwickelt. 2023 lebten bereits rund 1.500 Menschen in Westfalen-Lippe in dieser Wohnform, mit steigender Tendenz. Für Till Martenka bedeutet das vor allem eines: Freiheit. Er ist ein erwachsener Mann, der seine Wohnung selbst gestaltet, mit Assistenz, aber nach seinen Regeln. Der Staubsauger steht bereit, auch wenn der Akku mal leer ist, normal. Der Müll kommt raus. Und der Kaffee? Der schmeckt besonders gut, wenn man ihn sich selbst geholt hat.

Selbstbestimmtes Leben darf kein Luxus sein

„Selbstbestimmtes Leben darf kein Luxus sein – auch Zuhause nicht, auch nicht mit Assistenzbedarf. Wer Inklusion will, muss mehr bieten als Rampen und gute Absichten. Es geht um Wohnungen, nicht um Verwahrung – um Freiheit, nicht um Fürsorge von oben."

#Möglich-Macher sein

Takis Mehmet Ali
LWL-Sozialdezernent