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Sabrina Führer im blau-weiß gestreiften Pullover sitzt mit verschränkten Armen an einem Tisch vor einem bunten Gemälde.

"Endlich war ich nicht mehr die Blindeste"

Sabrina Führer besuchte seit ihrem ersten Schuljahr LWL-Förderschulen – und arbeitet heute nach ihrer Lehre als Bürokauffrau an der Universität Witten-Herdecke. Sie berichtet: Das Lernen mit anderen Kindern mit Seheinschränkungen hat ihren Weg mit geprägt.

Heute: im Berufsalltag angekommen

Die Finger fliegen über die Braillezeile, während Sabrina Führer eine Mail am Computer liest. Es klingelt, ein Anruf geht ein.

Die 43-Jährige nimmt ab. „Universität Witten-Herdecke, Telefonzentrale, mein Name ist Sabrina Führer. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Nach dem Gespräch lehnt sie sich zurück und spricht kurz mit einer Kollegin, die gerade in das Informationsbüro gekommen ist. Dann steht sie auf, es ist Mittagspause. Sabrina Führer entscheidet sich, eine Runde an die frische Luft zu gehen. Sie schnallt ihrer Blindenführhündin Reyka, die zwei Stunden lang ruhig neben ihr auf dem Boden gelegen hat, das Geschirr um. Zielstrebig laufen die beiden nebeneinander her, durch die erste Tür, eine Rampe hinunter, durch die große Eingangstür und treten aus dem Hauptgebäude der Hochschule hinaus.

Sabrina Führer hält Telefonhörer am Ohr

Schon immer: sehr selbstständig

Sabrina Führer ist seit ihren ersten Lebenstagen sehbehindert. Sie kam in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt, im Brutkasten löste sich ihre Netzhaut ab. Als Kind hatte sie noch minimale Sehreste, konnte Umrisse und Farben erkennen – doch in der Pubertät verschwand auch diese Wahrnehmung.

Heute unterscheidet sie auf ihrem linken Auge nur noch zwischen hell und dunkel, auf dem rechten ist sie vollkommen blind. Ihre Arbeit in der Telefonzentrale der Universität Witten-Herdecke, an der sie im Jahr 2002 ihre Ausbildung startete, schränkt das nicht ein. „Ich war schon immer sehr selbstständig“, erzählt sie, während sie mit einer Hand sanft über Reykas Kopf streicht. „Das wurde mir schon in meiner Kindheit beigebracht. Ich war ein Schlüsselkind, meine zwei älteren Brüder haben mich nicht verhätschelt, und ich musste mich oft gegen sie durchsetzen“, erinnert sie sich. Doch wenn es darauf ankam, standen sie immer hinter ihr.

Früher: Manchmal ein bisschen hinterher

Auch ihre Mutter behandelte sie nicht anders als andere Kinder. Sabrina kletterte auf Bäume, fuhr Fahrrad und Inlineskates – nach Gehör – und tobte mit Freunden durch die Straßen.

 „Ich durfte genau das machen, was alle anderen auch gemacht haben“, sagt sie. Nach ihrer Kindergartenzeit in einer Regeleinrichtung mit Frühförderung wechselte sie auf die Martin-Bartels-Schule in Dortmund, eine LWL-Förderschule für sehbehinderte Kinder. „Die meisten Schülerinnen und Schüler hatten mehr Sehkraft als ich. Beim Sport oder auch beim Lesen war ich deswegen immer ein bisschen hinterher“, erzählt sie, während sie Reyka krault. „In den ersten drei Jahren habe ich die Schwarzschrift gelernt. Ich musste regelrecht vor dem Bildschirm kleben, um ein Wort entziffern zu können, bis ich in der vierten Klasse dann mit der Blindenschrift angefangen habe." Da die anderen Schüler:innen aber mehr Sehkraft hatten, war der Unterricht dennoch oft mühselig für sie.

Die Zeit habe sie aber auch gestärkt, sagt sie: „Ich habe früh gelernt, für mich einzustehen.“

Auf dem Internat: unter Freund:innen mit ähnlichen Erfahrungen

Mit zehn Jahren zog sie ins Internat der Von-Vincke-Schule in Soest, ebenfalls eine LWL-Förderschule. „Das war eine tolle Zeit“, schwärmt sie. „Endlich war ich nicht mehr die Blindeste, sondern wir hatten alle einen ähnlichen Grad der Einschränkung. Da ich mit überwiegend sehenden Kindern aufgewachsen war, tat es mir gut, unter Blinde zu kommen.“ Sabrina Führer fühlt sich verstanden von ihren Mitschüler:innen und wächst mit ihnen zu einer kleinen Familie zusammen. Sie findet an der Von-Vincke-Schule eine neue Heimat:

„Weihnachten, Kirmes, gemeinsames Essen – wir haben alles zusammen gemacht.“

So lebte sie im Zimmer zunächst nur mit einer Mitschülerin, bis sie durchsetzte, dass sie zu viert dort wohnen konnten. „So gut haben wir uns verstanden.“ Viele Freundschaften von damals bestehen immer noch. Erst im vergangenen Jahr organisierte Sabrina Führer mit zwei Mitschüler:innen ein großes Ehemaligentreffen mit rund 100 Teilnehmenden.

Den Unterricht an der Schule hat sie ebenfalls in guter Erinnerung. Er fand in kleinen Klassen statt. Das machte intensives Lernen möglich. Außerdem war die Schule speziell auf taktiles Lernen ausgerichtet. Ein fühlbarer Globus und fühlbare Landkarten beispielsweise ließen Sabrina Führer von Soest aus die Welt entdecken. 

Sabrina Führer schaut gerne auf ihre Schulzeit zurück und hält Förderschulen nach wie vor für relevant:

„Inklusion ja, aber nicht um jeden Preis. Es sollte weiterhin Förderschulen geben, damit die Kinder, die bei der Inklusion nicht mitkommen würden, dort lernen können."

Sabrina Führer sitzt auf Schreibtischstuhl und telefoniert, auf dem Teppichboden hinter ihr liegt Schäferhündin Reyka mit Assistenzhund-Binde.

Auf dem Arbeitsmarkt: herausgefordert

Nach der Schule erwies sich die Suche nach einem Ausbildungsplatz als nicht einfach. „Viele Unternehmen wussten nicht, was sie mit einer blinden Auszubildenden anfangen sollten.“

Doch Sabrina Führer ließ sich nicht entmutigen. Sie nahm Kontakt zu den Berater:innen vom LWL-Programm „MobiliS“ auf, das blinde und sehbehinderte Auszubildende sowie deren Ausbildungsbetriebe unterstützt und berät. Sabrina Führer hatte Erfolg bei ihrer Suche: 2002 begann sie ihre Ausbildung zur Bürokauffrau an der Universität Witten-Herdecke. Parallel dazu absolvierte sie ihre Berufsschule wiederum am LWL-Berufsbildungswerk Soest. Nach ihrer Ausbildung wurde sie übernommen, arbeitete zunächst in der Poststelle und im IT-Support und ist nun Ansprechpartnerin in der Telefonzentrale der Universität. 

Sabrina Führer sitzt auf einem Betonelement und streichelt Assistenzhünin Reyka. Im Hintergrund kommen Menschen aus dem Hochschulgebäude

Im Leben und bei der Arbeit: engagiert

Die Arbeit ist ein wichtiger Teil ihres Lebens. Zudem engagiert sich Sabrina Führer an vielen Stellen für die Belange von Menschen mit Sehbehinderungen.

Sie berichtet zum Beispiel Studierenden über ihre Erfahrungen als Blinde. Die jungen Erwachsenen können auch Selbstversuche machen, angehende Zahnärzt:innen lernen beispielsweise den Umgang mit blinden Patient:innen. Bei diesen Aufgaben ist ihr Reyka besonders wichtig. „Ohne sie wäre mein Leben viel komplizierter“, sagt Sabrina Führer und krault die Schäferhündin hinter den Ohren. „Sie gibt mir Sicherheit, Unabhängigkeit und Mobilität.“ Auch im Stadion von Schalke 04, ihrer großen Leidenschaft. Seit ihr Opa sie als Kind ins Stadion mitnahm, schlägt ihr Herz für den Club. „Ich liebe Fußball“, sagt sie.

„Als ich meinen Job bekam, habe ich zur Belohnung eine Saison lang jedes Bundesligaspiel besucht – auch die Auswärtsspiele.“

Dabei ist auch der Fußball für sie mehr als nur ein Hobby. Sie engagiert sich in der „AG Schalke für alle“, die Barrieren für Menschen mit Behinderungen abbaut. „Wir haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass Blindenführhunde ins Stadion dürfen“, erzählt sie stolz. Auch abseits des Stadions setzt sie sich für die Rechte blinder Menschen ein. Sie arbeitet im Leitungsteam des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Witten und berät ehrenamtlich Menschen mit Sehverlust im Verein „Blickpunkt Auge“. „Viele blinde Menschen arbeiten nicht, weil ihnen die Möglichkeit nicht gegeben wird“, ergänzt sie. Und sagt dann mit Nachdruck:

„Ich habe immer für meinen Platz gekämpft – und das will ich weitergeben.“

Die LWL-Schulen

Für gleiche Chancen aller jungen Menschen sorgt der LWL in ganz Westfalen-Lippe: In seinen 35 Förderschulen mit vier unterschiedlichen Förderschwerpunkten und mit seinem Fachwissen beim Prozess der schulischen Integration insgesamt.

Das LWL-Berufsbildungswerk Soest

Mit berufsvorbereitenden Lehrgängen und Berufsausbildungen bereitet das LWL-Berufsbildungswerk Soest blinde und sehbehinderte junge Menschen sowie junge Menschen mit Autismusstörung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vor.