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Ein Frau hält ein Glas Tee in den Händen und schaut aus dem Fenster.

Von Sucht, Scham und Einsamkeit

Der Weg aus der Einsamkeitsspirale

① Die Story als Film

Alkoholsucht und Depression sind schlimm genug, können aber über die Krankheit hinaus auch zu einem sehr einsamen Leben führen. Anke Rasch hat das erlebt und sich mithilfe von Therapie und mit viel eigener Kraft wieder herausgekämpft.

Wohnzimmer

② Langeweile und Alkohol

Wer Anke Rasch heute in ihrer gemütlichen hellen Wohnung in Welver – einer kleinen Gemeinde im Kreis Soest – sieht, erlebt eine muntere, aufgeschlossene Frau, die gerne mit anderen Menschen zusammen ist.

Vor gar nicht langer Zeit war das ganz anders. Anke Rasch hatte sich zurückgezogen, saß oft alleine am Tisch oder auf dem Sofa, lag im Bett, schaute lange aus dem Fenster. Neben ihr stand dann schon morgens ein Glas Weißwein. Bis zum Ende des Tages wurden es oft mehrere Flaschen, und das wochenlang.

Anke Rasch weiß heute, dass sich ein Muster wiederholte: „Ich bin schon lange alkoholabhängig, konnte das Trinken aber jahrelang gut kontrollieren.“ Bis Corona kam: Sie arbeitete im Reisebüro, das mit den ersten Ausgangsbeschränkungen im März 2020 direkt schließen musste. Niemand wollte und durfte mehr reisen. „Ich war plötzlich alleine zu Hause, abgeschnitten vom Alltag“, sagt Anke Rasch.

Die Langeweile wurde zu einem Problem. Und irgendwann griff sie wieder zum Alkohol. „Am Anfang dachte ich noch: ‚das eine Glas am Abend, das schadet ja nicht‘. Aber es blieb nicht dabei. Bald war es mehr, und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wieder mitten drin steckte.“

Eine Frau sitzt nachdenklich im Wohnzimmer.

③ Die ersten Schritte

Es dauerte zwei Jahre, bis sie sich eingestand, dass sie Hilfe brauchte. Die Scham war groß, der Kontakt zu Freunden fast völlig abgebrochen. Mithilfe von Verwandten, die sich Sorgen gemacht hatten, ging sie im März 2022 in die LWL-Klinik Lippstadt. Nach fünf Tagen Entgiftung folgte eine längere stationäre Behandlung. In der Therapie wurde schnell klar, dass der Alkohol nicht ihr einziges Problem war. Die Einsamkeit war ebenso schwer zu bewältigen. Die Schuldgefühle, das Gefühl, andere vor den Kopf gestoßen zu haben, hielten sie davon ab, wieder auf Menschen zuzugehen. „Ich habe mich oft gefragt, was die anderen wohl denken. Ob sie mich noch ernst nehmen. Aber in der Therapie wurde mir klar: Ich muss den ersten Schritt machen, sonst bleibt alles, wie es ist.“

Zwei Frauen sitzen einander zugewandt auf einer Bank im Freien.

④ Vertrauen fassen

In der Klinik traf Anke Rasch auch auf Judith Marke. Die Psychotherapeutin, die in der LWL-Klinik Lippstadt als Leitende Psychologin in der Suchtabteilung arbeitet und auch in der Suchtambulanz tätig ist, begleitete die Patientin durch die schwierige Zeit. „Frau Rasch war zu Beginn sehr niedergeschlagen. Sie hatte ein starkes Schuldgefühl, war unsicher. Aber gleichzeitig war da diese soziale Seite in ihr, die verschüttet war unter all der Angst und dem Rückzug“, erinnert sich Judith Marke an die ersten Wochen. „Wir haben daran gearbeitet, dass sie wieder Vertrauen fasst, in sich selbst und in andere.“

In der Einzel- und in der Gruppentherapie arbeitete Anke Rasch daran, ihre sozialen Fähigkeiten wiederzuentdecken. „Das erste Mal wieder aktiv auf Menschen zuzugehen, das war schwer“, erzählt sie. „Ich hatte mich ja lange eingeigelt. Als ich merkte, dass andere ähnliche Ängste haben, wurde es leichter.“ Für Judith Marke ist das der Schlüssel, um die Sucht zu bewältigen.

„Die Patientinnen und Patienten müssen selbst etwas tun und auch neue Gewohnheiten lernen.“ Das ist nicht einfach, zumal die Sucht oft schleichend beginnt, aus der Vorliebe zum Beispiel für einen guten Wein, aus Genuss. „Wenn im Leben dann krisenhafte Ereignisse auftreten, wird Alkohol häufig als Problemlöser genutzt“, sagt Judith Marke. „Durch die kurzfristigen, positiven Konsequenzen von Alkohol kann es daher schnell schleichend zur Entwicklung einer Abhängigkeit kommen. Häufig mündet diese in Gefühlen von Einsamkeit und Schuld.“ 

Zwei Frauen machen einen Spaziergang.

⑤ Stabil bleiben

Anke Rasch besuchte nach dem Klinikaufenthalt die LWL-Suchtambulanz in Lippstadt. Hier arbeitet sie weiter daran, nicht wieder in alte Muster zu fallen. Dazu gehörten und gehören auch Hausbesuche. „Es ist ganz wichtig, dass wir das soziale Umfeld kennenlernen, um die beste Therapie bieten zu können“, sagt Judith Marke, die heute mit Anke Rasch einen Spaziergang rund um die Welver Kirche gemacht hat. „So dürfen wir einen Einblick in soziale Kontakte und gemeinsame Hobbys vor Ort bekommen, die den Schritt aus der Einsamkeit überhaupt erst ermöglichen.“ 

Anke Rasch half die Behandlung sehr. Nach und nach nahm sie wieder Kontakt zu alten Bekannten auf. Mit der Zeit kehrte auch die Struktur in ihren Alltag zurück. Sie fand wieder Arbeit, zuerst in einem befristeten Job, nun hat sie eine feste Stelle als Reiseverkehrskauffrau in Hamm. Es ist nicht immer einfach, sagt sie, doch sie hat Strategien entwickelt, um sich selbst zu stabilisieren. „Ich weiß jetzt, dass ich früher reagieren muss. Ich kann mir keinen Rückzug mehr erlauben. Wenn ich merke, dass ich mich wieder einigle, dann rede ich mit jemandem.“

Drei Frau begrüßen sich herzlich.

⑥ Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein

Eine wichtige Stütze in ihrem Alltag sind ihre Freundinnen. Nach dem Termin mit Judith Marke trifft sie zwei von ihnen am Rand von Welver zum Walken, dort, wo die Felder beginnen. Die Sonne scheint, die Luft ist klar und kalt. Die drei Frauen gehen zügig, ihr Atem dampft. Während sie laufen, reden sie – über Alltagssorgen, über Erlebnisse, manchmal auch über Probleme. „Es tut gut, nicht alles mit sich allein auszumachen“, sagt Anke Rasch, die heute auch anderen Menschen, die sich einsam fühlen, ihre Erfahrungen weitergibt.

Das Walken ist für sie nicht nur Bewegung, sondern auch eine Form von Austausch. Etwas, das ihr Struktur gibt. Und vor allem das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. „Ich hätte nicht gedacht, dass so eine einfache Routine mir so viel geben kann. Diese zwei Stunden am Morgen reichen schon allein, um die Einsamkeit nicht wiederkommen zu lassen.“ 

Sieben Sätze über Einsamkeit

...und was die Therapeutin Judith Marke und Ihre Kolleg:innen dazu sagen

"Einsamkeit ist doch keine Krankheit. Wer einsam ist, soll sich einen Hund anschaffen oder andere Menschen treffen."

Das können Schritte sein. Doch so einfach ist es keinesfalls. Der Ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Manfred Spitzer, hat 2018 ein Buch über Einsamkeit geschrieben (Der Spiegel am 20.7.2024). Er sagt: “Einem chronisch einsamen Menschen zu raten, er solle die Initiative ergreifen, das ist, als würde man einem Rollstuhlfahrer sagen, er solle aufstehen.”

Ein einsamer Mensch muss erst einmal in die Lage versetzt werden, selbst aktiv werden zu können. Dass jemand einsam wird, hat zum einen Gründe, die nicht immer leicht behoben werden können, wie Mobbingerfahrungen. Auf der anderen Seite führt Einsamkeit zu vielfältigen weiteren Problemen wie Depressionen, die es schwermachen, aus dem Loch herauszukommen.

Um aus der Einsamkeit herauszukommen, bietet sich z. B. die Anmeldung zu einem Tanzkurs an. Dieser Schritt ist natürlich nicht leicht und verdeutlicht, dass man sich auch zu etwas zwingen muss, wenn man aus der Einsamkeit herausfinden möchte. 

Andererseits kann man sich auch in Gesellschaft einsam fühlen, dann sollte man trotzdem nicht die Gesellschaft vermeiden, sondern prüfen, ob das Gefühl der Einsamkeit vielleicht auch im Rahmen einer depressiven Entwicklung auftritt.

Einsamkeit ist zwar keine Krankheit, kann jedoch die Entwicklung von psychischen Erkrankungen begünstigen. Darüber hinaus sind Menschen, die von Einsamkeit betroffen sind, häufig weniger flexibel in ihrer Verhaltens- und Aktivitätsplanung, wenn sie sich stark aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen haben. Häufig erleben sie auch eine sehr Ich-zentrierte und unflexible Sicht der Dinge, was die Perspektivübernahme ebenfalls erschweren kann und Gesellschaft dementsprechend als anstrengend erlebt werden kann, was einen erneuten Rückzug zur Folge haben kann.

„Wer einsam ist, hat keine Freunde.“

Einsamkeit bedeutet nicht automatisch, dass jemand keine sozialen Kontakte hat. Diese können verschüttet sein. Man kann sich auch inmitten von Menschen einsam fühlen, wenn Verbindungen als oberflächlich oder unbefriedigend empfunden werden.

Man sollte offen dafür sein, als oberflächlich und unbefriedigend erlebte Beziehungen zu reflektieren: Warum erlebe ich diese als solche? Teilen wir weniger Interessen als früher? Wie kann ich diese Beziehungen stärken und möchte ich diese Beziehungen überhaupt stärken? Habe ich „verloren gegangene" Kontakte, die ich zu wenig gepflegt habe? Ich muss mich auch trauen, mich „an die eigene Nase zu fassen“ und mir einzugestehen, dass ich manche Kontakte auch vernachlässigt habe.

„Unter Einsamkeit leiden vor allem alte, alleinstehende Menschen.“

Das ist nicht korrekt. Auch junge Menschen sind zunehmend von Einsamkeit betroffen und stellen damit eine neue Risikogruppe dar. Rund zehn Prozent der 16- bis 30-Jährigen in Deutschland fühlt sich sehr einsam. Etwa ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung zwischen 18 und 53 Jahren fühlt sich zumindest teilweise einsam, 17 Prozent sind sehr einsam (Quelle: Bertelsmann Stiftung 2024).

Auch Menschen mit Suchterkrankungen fühlen sich häufig einsam, weil sie sich aus Scham aus ihrem sozialen Umfeld zurückziehen oder weil sie versuchen müssen, sich ein nicht konsumierendes, neues Umfeld aufzubauen.

„Einsamkeit ist ein Zeichen von persönlichem Versagen.“

Einsamkeit ist keine Schwäche oder ein persönliches Versagen, sondern kann durch viele Faktoren entstehen, z. B. gesellschaftliche Entwicklungen, soziale Isolation oder Lebensumstände. 

Vielleicht ist es kein Zeichen von persönlichem Versagen. Es kann aber sein, dass ich zu wenig Verantwortung für die Pflege meiner sozialen Kontakte übernommen habe, aus den unterschiedlichsten Gründen. Dann ist es an der Zeit, wieder bewusst Verantwortung dafür zu übernehmen und meine Prioritätensetzung zu überdenken: „Wie wichtig sind mir soziale Kontakte in meinem Leben und was bin ich bereit, dafür zu tun?"

Es ist auch okay, ab und zu in bestimmten Zeiten im Leben in manchen Situationen zu versagen. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass ich ein „Versager“ bin. Ich möchte mir nun lieber die Frage stellen, was ich aktiv dafür tun kann, im Bereich der Beziehungspflege zukünftig nicht mehr zu versagen, sondern für die Pflege und Erweiterung meines sozialen Netzwerks bewusst Verantwortung zu übernehmen.

"Einsamkeit kann man einfach mit Social Media oder Online-Kontakten bekämpfen."

Nur bedingt. Digitale Kontakte können helfen, aber sie ersetzen oft keine tiefen, echten Beziehungen im realen Leben. Zu viel Social Media kann Einsamkeit sogar verstärken, wenn man sich mit scheinbar perfekten Leben anderer vergleicht. Die ständige Erreichbarkeit und die alltägliche, zum Teil stundenlange und kontinuierliche Nutzung sozialer Medien suggerieren uns häufig die Illusion des ständigen Kontakts. Wir kreieren damit ein dauerhaftes, jedoch oberflächliches und extrem fehleranfälliges Kontaktbedürfnis. Wird dieses Bedürfnis nicht erfüllt, weil ich zum Beispiel mal weniger Nachrichten erhalte als gewohnt, kann ich schnell ein Gefühl von Einsamkeit und Enttäuschung erleben.

„Einsamkeit ist nur ein vorübergehendes Gefühl.“

Nicht unbedingt. Chronische Einsamkeit kann sich negativ auf die psychische und physische Gesundheit auswirken, z. B. durch ein erhöhtes Stressniveau, Depressionen oder ein geschwächtes Immunsystem. Somit führt Einsamkeit oft zu mehr Einsamkeit, was dauerhaft werden kann, wenn ich z. B. aus der Einsamkeit heraus eine Suchterkrankung entwickele und damit den Weg ebne für den Teufelskreis aus Sucht und Einsamkeit. Denn Sucht führt dazu, dass ich das Gefühl der Einsamkeit noch intensiver und mich in der Einsamkeitsbewältigung noch hilfloser erlebe, was dazu führt, dass ich noch schneller und mehr konsumiere und mich noch mehr zurückziehe.

„Einsamkeit zersetzt die Demokratie.“

Da ist tatsächlich etwas dran.

Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung im Juni 2024 sind junge Menschen, die geschieden oder verwitwet sind, arbeitslos sind, einen niedrigen Schulabschluss haben, in mittelgroßen Städten leben oder einen Migrationshintergrund haben, von Einsamkeit besonders betroffen.

Einsame Jugendliche glauben eher an Verschwörungsgeschichten und sind empfänglicher für autoritäre Haltungen (s. Der Spiegel, 20.7.2024).

Wenn Menschen wenig Halt gebende Beziehungen haben, können sie sich schneller in Orientierung und Halt gebenden Ideologien verlieren.

Einsame Menschen werden weniger mit anderen Ansichten konfrontiert, leben in ihrer "Bubble" und gehen seltener in den Meinungsaustausch mit anderen. Folglich erhalten sie keine frühzeitige Korrektur möglicher extremer, anderer Ansichten, wodurch sich diese schneller verfestigen können.

"Einsamkeit ist ein komplexes Gefühl"

Prof. Dr. med. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum

"Einsamkeit kann das Zugehörigkeitsgefühl zur Gesellschaft vermindern – und so auch zu einem gesellschaftlichen und politischen Thema werden."

Dr. Georg Lunemann, der Direktor des LWL