Mit Sinn und Verband - Folge 1 - Housing First
Musikquellen:
Musik: Background Ambient 4 Loop Version, aufgeführt von LEXMusic/Jamendo/ via Adobe
Musik: STAND, aufgeführt von Evoked Intuition/FineTune Music/ via Adobe Stock
Verena Feller: Wir sprechen ja nicht über eine Person, die gerade mal kurz ihre Wohnung verloren hat. Sondern, wir sprechen hier von Personen, die schon über mindestens ein Jahr, ganz oft Jahre Erfahrung im Hilfesystem haben und damit Erfahrungen hat, zu scheitern.
Malte Thießen: Eine Wohnung zu finden, das fühlt sich manchmal ein bisschen so an, wie auf einen Sechser im Lotto zu warten. Selbst Ärztepaare schalten Anzeigen in Zeitungen. Verbeamtete Lehrerinnen und Lehrer hängen Ausdrucke an Laternenmasten oder Familien ziehen in die umliegenden Kleinstädte, um eine ausreichend große und bezahlbare Wohnung zu finden. Wenn es für diese Menschen schon schwer ist, wo bleiben dann diejenigen, die keinen beeindruckenden Lebenslauf haben, die gar keinen Job haben? Die auf der Straße leben? Haben diese Menschen überhaupt eine Chance? Und wenn ich als Vermieterin oder Vermieter die komplett freie Wahl zwischen Ärzten und Beamten habe, warum sollte ich mich dann für eine wohnungslose Person entscheiden?
Moin moin, Ich bin Malte Thießen, Historiker und Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Ich darf euch ganz herzlich zum Podcast „Mit Sinn und Verband“ begrüßen, dem Podcast, in dem wir die Geschichten von den Menschen hinter den LWL Projekten erzählen. Heute sehen wir uns das Projekt „Housing First“ an, ein Projekt, das wohnungslosen Menschen den Einzug in die eigene Wohnung ermöglicht und ihnen so beim Start in ein neues Leben hilft. Wir hören heute von einer Sozialarbeiterin und einem Sozialarbeiter, die das Projekt betreuen. Wir sprechen mit einem Vermieter, der Wohnungen an wohnungslose Menschen vermietet. Vor allem aber sprechen wir nicht nur über diese Menschen, sondern auch mit einem dieser ehemals wohnungslosen Menschen.
Ja, ich habe heute Verena Feller hier. Verena Feller ist 31 Jahre alt und ist seit über zehn Jahren in der ambulanten Wohnungsnotfallhilfe und seit April 2024 im LWL tätig. Dort Projektmitarbeiterin für ein Projekt, was uns jetzt heute beschäftigt, nämlich “Housing First”. Ein wichtiges Projekt, was mit Wohnungslosigkeit ganz neue Wege Lösungswege versucht zu gehen. Erzähl doch mal, was ist denn Housing First eigentlich überhaupt?
Verena Feller: Housing First ist ein Ansatz, der davon ausgeht, dass Menschen grundsätzlich erstmal eine Wohnung benötigen, um weiter ins Leben zu gehen und neue Wege zu finden, Herausforderungen zu lösen und die Probleme, die mit der Wohnungslosigkeit einhergehen, zu überwinden. Und das Konzept ist „Housing first“, sagt ja schon quasi das Wort, eben die Wohnung zuerst und die Personen erhalten bedingungslos eine Wohnung. Also jemand muss nicht abstinent sein, jemand muss keine Therapie machen, sondern das, was gewünscht ist, ist, dass die Person eine Wohnung beziehen möchte und beziehen kann. Und im zweiten Schritt dann Unterstützungsleistungen angeboten bekommt und niedrigschwellig Kontakte anbieten und sagen hier, wie kann Ihr Leben wieder so werden, dass Sie sich wohlfühlen und dass Sie zufrieden sind mit Ihrem Leben? Das sind die grundlegenden Ziele.
Malte Thießen: Das finde ich extrem spannend. Vom bedingungslosen Grundeinkommen haben vielleicht einige schon mal gehört, aber bedingungsloses Wohnen sozusagen, das ist doch in der Deutlichkeit der Radikalität dann doch recht ein weiterer Schritt. Was ist denn die Idee dahinter? Tatsächlich wird man ja sonst denken, oder man kennt es vielleicht sonst von sozialstaatlichen Maßnahmen her, da will man auch relativ zielgerichtet schnell vorgehen. Da muss sozusagen dann auch was bei rauskommen. erst mal so platt gesagt, diese Bedingungslosigkeit. Das scheint mir doch ein extrem spannender, auch extrem weitgehender Ansatz zu sein. Was ist denn da der Hintergrund?
Verena Feller: Der Hintergrund ist, dass die Wohnung eine Sicherheit bietet, die eine Einrichtung oder eine Übergangswohnung oder eine andere Form von Wohnen, die mit Bedingungen zusammenhängt, wie beispielsweise Unterstützungsleistungen anzunehmen, nicht erfüllt werden kann. Also, die Wohnung gibt eine Sicherheit und eine Privatsphäre. Und in diesem Rahmen der eigenen Wohnung kann man sich den anderen Problemen überhaupt erst widmen. Und es gibt Personen, die mit dem Sozialhilfesystem, wie es aktuell aufgestellt ist, was ja total ausdifferenziert ist und verschiedenste Möglichkeiten bietet, trotzdem keinen Weg finden, die Wohnungslosigkeit dauerhaft zu überwinden, sondern die sind dann mal in einer stationären Einrichtung, gehen dort wieder raus, weil sie mit dem System nicht zurechtkommen, mit den Mitbewohnern nicht zurechtkommen oder ähnliches, ziehen dann vielleicht wieder zurück in der Notunterkunft oder gehen zurück auf die Straße, ziehen dann mal ins ambulant betreute Wohnen in eine trägereigenen Wohnung oder ähnliches, ziehen dann vielleicht wieder in die Notunterkunft, was immer eine Herausforderung ist, in einer kommunalen Notunterkunft zu wohnen und wechseln so durch das System und nutzen verschiedene Angebote. Aber sie finden eben nicht das Passende, um diese Wohnungslosigkeit, also das Problem der Wohnungslosigkeit, dauerhaft zu überwinden. Und da bietet Housing First eben den Ansatz, dass die Wohnung so viel Sicherheit bietet, dass die Person sich dann auch diesen Problemen widmen kann und das nachhaltig überwinden kann.
Malte Thießen: Das ist ja ein Konzept Housing First, was 1994 in den USA gestartet wird, also hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, jetzt mal salopp gesagt. Also kann ja schon auf eine gewisse Tradition offenbar zurückblicken. Warum startet der LWL das jetzt?
Verena Feller: Dass es so lange gebraucht hat, dass es in Deutschland ankommt, liegt an dem wirklich guten Hilfesystem, was wir in Deutschland schon haben. Wir haben Beratungsstellen, wir haben ambulante Hilfen, wir haben stationäre Angebote. In Deutschland gibt es zum Beispiel auch die Möglichkeit, sich unterbringen zu lassen von Kommunen in Notunterkünften. Und das ist in vielen, vielen anderen Ländern Europas und auch weltweit nicht der Fall. Also zum Beispiel diese Pflicht zur Unterbringung oder auch die Hilfe, den Rechtsanspruch auf diese Hilfe ist einzigartig und deshalb hat Deutschland gar nicht unbedingt als notwendig angesehen, auch Sozialarbeiter in Deutschland gar nicht als notwendig angesehen. Man hat dann aber festgestellt: Dafür gibt es schon doch eine Zielgruppe, eben wohnungslose Menschen, die immer wieder aus diesem Hilfesystem rausfallen.
Malte Thießen: Das finde ich extrem spannend. Das beschreibt diese Paradoxie, quasi das sozusagen, gerade weil das Hilfesystem an sich ganz gut ausgestattet ist oder ganz gute Infrastrukturen bestehen, dass dann die Problemlagen nicht so richtig auf dem Schirm sind und das tatsächlich dann diese Verzögerung dann auch erklärt, mit dem dann jetzt das Projekt durchstartet. Also Obdachlosigkeit, oder Wohnungslosigkeit, stelle ich mir generell schon nicht einfach vor in der Arbeit und dann aber auch noch mal tatsächlich innerhalb der Gruppe der der Wohnungslosen auch noch mal Menschen, die noch mal besondere Unterstützungsleistungen brauchen, dass die insbesondere angesprochen werden sollen. Wie muss man sich das vorstellen? Wer ist das, der da angesprochen wird?
Verena Feller: Die Personen sind ganz unterschiedlich. Die Förderrichtlinie sieht vor, dass die Personen sogenannte besondere soziale Lebensverhältnisse erleben. Das sind eben die Wohnungslosigkeit, die Obdachlosigkeit bedeuten kann, also das Leben auf der Straße oder das Unterkommen in der Notunterkunft, bei Freunden oder Bekannten, im Auto. Also wirklich alles, was man sich vorstellen kann. Das ist eben die eine Voraussetzung. Dazu kommen dann noch finanzielle Schwierigkeiten, die anstehen können, dass man keine sozialen Netzwerke mehr hat, die einen unterstützen oder auch eine Suchterkrankung, Probleme am Arbeitsmarkt, gar keine Ausbildung zu haben vielleicht oder seinen Arbeitsplatz verloren zu haben und auch Zugangsschwierigkeiten in der Arbeitsmarkt zu haben, das sind diese besonderen Lebensverhältnisse. Die komplexen Problemlagen stellen sich tatsächlich oft so dar, dass Personen keine Hilfe in Anspruch nehmen möchten, weil sie eben schon so viel ausprobiert haben und feststellen, okay, ich finde gar nicht die passende Hilfe. Ich habe das Vertrauen in das Hilfesystem verloren. Ich vertraue Sozialarbeiter*innen oder Therapeuten nicht mehr. Ich möchte mit all dem gar nichts mehr hingeben, weil ich erfahren habe, dass das nicht funktioniert. Und die Voraussetzung, dass man im Housing First eine Wohnung zur Verfügung stellt und einen Vertrauensvorschuss gibt und sagt: Na ja, okay, du hast schon einiges probiert und trotzdem glauben wir an dich und du hast eine Chance verdient. Bietet eben diese neue Möglichkeit, niedrigschwelligen Zugang zu schaffen und da auch schon Vertrauen zu den Hilfen aufzubauen, also zu den Sozialarbeitern. Und dann zu sagen: Gut, wenn ihr mir einfach so eine Wohnung gebt, dann kann ich auch darauf vertrauen, dass ihr hier seid, wenn es mal schlecht läuft. Und das ist tatsächlich das Erfolgsrezept, sage ich mal von Housing First. Warum auch diese Personen, die dann vielleicht als erst mal als schwierig gelten, weil sie so lange wohnungslos sind, weil sie so viele Herausforderungen mitbringen wie Schulden oder wie eine psychische Erkrankung und kein soziales Umfeld, dann trotzdem erfolgreich vermittelt werden können.
Ertun Sakaya: Also ich heiße Erkan Sakaya, bin in Bad Oeynhausen geboren.
Malte Thießen: Wir treffen Ertun Sakaya bei der Diakonie in Minden. Er ist 51 Jahre alt, trägt kurze Haare und ein eng anliegendes T-Shirt.
Ertun Sakaya: Und seit 2004 bin ich obdachlos.
Malte Thießen: Er ist vor dem Interview etwas aufgeregt, denn Ertun Sakaya wirkt wie der Typ Mensch, der es anderen gern recht macht. Dabei ist ihm das in seinem Leben nicht immer gelungen.
Ertun Sakaya: Ich habe den Verlust meiner Frau und Tochter nicht schön bearbeitet. Dann habe ich gekifft und gesoffen. Dann habe ich mich gehen lassen, wollte das nicht verstehen, war allein, hatte keine Familie mehr, keinen Job mehr, kein Auto mehr, gar nichts mehr. Und so habe ich gedacht: Ja. Was ist los? Warum klappt es nicht mit mir?
Malte Thießen: Irgendwann entwickelt Edwin Zakaria eine Psychose. Gut möglich, dass sie vom Kiffen kommt. Seine Wahrnehmung ist immer wieder gestört.
Ertun Sakaya: Dann kam meine Krankheit. Habe Selbstgespräch gehabt. Defekte, Aussetzer. Und dann habe ich geschrien, mit mir selbst geredet.
Malte Thießen: Er kann deswegen nicht mehr arbeiten und bekommt Frührente. Aber die Spirale dreht sich weiter abwärts, bis er so lange seine Miete nicht mehr bezahlt, dass er seine Wohnung verliert. Mal kommt er die Nacht bei Bekannten unter. Mal schläft er auf der Straße.
Ertun Sakaya: Kumpel, Bekannte, draußen auf der Bank, im Wald, im Auto, im Bulli, im LKW. Überall, wo ich mich hinlegen könnte, habe ich mich hingelegt.
Malte Thießen: Doch ein bisschen Glück hat Ertun Sakaya. Er ist freundlich, und die Leute schließen ihn schnell ins Herz. Manchmal hilft er auch in einem Dönerladen aus. Er packt mit an, wo er helfen kann. Als Dankeschön gibt es gratis Essen.
Ertun Sakaya: Viele mögen mich. Viele helfen, wo sie helfen können. Mit fünf oder zehn mit Essen. Zigarette. Aber manchmal gar nix. So habe ich mich all die Jahre über John geschlagen.
Malte Thießen: Wegen seiner Erkrankung wird er auch immer wieder für mehrere Wochen stationär in Psychiatrien eingewiesen. Abgesehen davon ist er viel am Bahnhof. Er kifft, trinkt Alkohol und gehört zur so genannten Szene. Das ist sein Alltag. Aufstehen, zum Bahnhof gehen. Kaffee trinken. Kiffen. Alkohol. Neuen Schlafplatz suchen. So geht alles seinen Lauf. Aber eigentlich will er das gar nicht.
Ertun Sakaya: Und die Straße ist immer so: Da kommen immer Leute, die Probleme haben. Unterbewusstsein kaputt, Verstand kaputt, Orientierung kaputt, Körperfunktionen kaputt. Ich unterhalte mich mit denen und denke mir: Was suche ich hier. Die passen doch gar nicht zu mir!
Malte Thießen: Ertun Sakay möchte, wie er selbst sagt, wieder groß rauskommen, etwas aus sich machen. Doch als erstes muss eine Wohnung her.
Ertun Sakaya: Ich habe alles gemacht. Ich habe Immobilienmakler, Privat, Mundpropaganda, Zeitung, Internet immer geguckt. Aber der einzige sagt: Sind so Ausländer? Nein, kriegen sie nicht. Sind Sie arbeitslos? Nein, kriegen Sie nicht. Sind Sie Rentner? Nein, kriegen Sie nicht. Ja dann finden Sie mal eine Wohnung.
Malte Thießen: Wenn man sich jetzt mal die Perspektive der Vermietendenen reindenkt, können wir ja sagen. Also zurzeit der Wohnungsmarkt. Es brennt ja tatsächlich. Man kriegt ja im Grunde jede Wohnung momentan weg. Jetzt mal so zugespitzt formuliert: Warum tut man sich das an als Vermieter*in? Das ist ja erst mal, auf den ersten Blick wird man denken, ein hohes Risiko, jemanden in die Wohnung zu lassen mit den Erfahrungen. Da greifen dann wahrscheinlich sehr schnell die Stereotype: Der nimmt die Wohnung auseinander oder fackelt da die halbe Wohnung ab, was auch immer. Wie gehen da die Vermieterin damit um oder was für eine Sicherheit und Absicherung haben die da?
Verena Feller: Wir haben in der Förderung vorgesehen, dass die Vermieter*innen eine Absicherung gehalten. Genau für diese Gedankenspiele, Die kommen gar nicht so oft vor in der Praxis. Also es ist wirklich eher eine Ausnahme, aber wenn sie dann vorkommt, ist sie eben besonders ärgerlich und besonders aufwendig. Und dafür haben wir eben zwei Förderungen vorgesehen. Das ist einmal eine sogenannte Risikoabdeckung. Das ist, wenn die Miete ausfällt, beispielsweise bei Leerstand, wenn jemand auszieht und es muss jemand Neues gefunden werden. Oder wie jetzt kürzlich in einem Fall, wo jemand verstorben ist. Da hat der Vermieter den Angehörigen einfach ein bisschen Zeit gelassen, die Wohnung auszuräumen und es brauchte auch ein bisschen, um einen passenden Nachmieter zu finden. Und da haben wir die Hälfte der Miete übernommen für die Zeit des Leerstandes. Das machen wir bis zu sechs Monate. Es kann aber auch dazu kommen, dass die Person mal keine Miete mehr zahlen. Ein Klassiker tatsächlich ist, dass jemand von Bürgergeldbezug in Arbeit wechselt. Und Bürgergeld wird immer zum Anfang des Monats gezahlt und das Gehalt ganz oft erst zum Ende oder zum 15.. Das heißt, jemand ist vier Wochen oder sechs Wochen ohne Gehalt und dann ist es manchmal nicht die erste Idee, von den Personen leider die Miete zu bezahlen. Oder auch der Wechsel von Bürgergeld in Rente kann auch manchmal so ein Risiko sein, wo jemand die Miete nicht zahlt. Und da zahlen wir bis zu drei Monate die gesamte Miete, wenn die ausfällt. Und das andere ist, was wir in unserer Förderung vorgesehen haben, dass wenn Schäden entstehen, da haben wir vorgesehen, dass wir das übernehmen. Bis zu einem gewissen Grad, nämlich bis zu sechs Monats Kaltmiete, entschädigen wir einen Vermieter für Schäden, die willentlich von der Mieter entstanden sind. Das kann aufgrund einer Psychose gewesen sein oder zu viel getrunken oder nur Wut oder Ähnliches. Das, was am häufigsten vorkommt, ist tatsächlich eine kaputte Türzarge von der Eingangstür, weil jemand seinen Haustürschlüssel vergessen hat oder verloren hat und dann sich denkt ach, ich spare mir das Geld für den Schlüsseldienst und ich komm schon irgendwie in diese Wohnung rein. Ich arbeite jetzt schon seit zehn Jahren in der Wohnungsnotfallhilfe und ich glaube, das ist irgendwie vier Mal vorgekommen oder fünf Mal. Dass so größere Schäden entstehen, ist wirklich selten. Aber auch dafür sind wir dann ansprechbar und kommen zumindest für einen Teil dann eben auch auf.
Malte Thießen: Und das ist ja eine Erfahrung und ein Ergebnis des Projektes, das ja weit über das Projekt hinausreicht, weil genau diese Zahlen deutlich machen, dass Stereotype eben wirklich Stereotype sind, dass es Klischees sind, Vorstellungen von Menschen, die nämlich sehr viel seltener, als man das so meint mit den Problemen dann, die die Vermieterinnen konfrontieren.
Verena Feller: Genau richtig. Und wir können auch ein Stück weit dadurch zeigen: So oft wird es gar nicht abgerufen. Also wir haben zweimal eine Risikoabdeckung für Leerstand bezahlt. Einmal ist eine Person nicht eingezogen und einmal ist eine Person verstorben. Und das waren tatsächlich eher so Übergänge und einmal mussten wir einen Schaden bezahlen. In diesem ganzen Jahr noch kein einziger Schadensmeldung in einem Fall.
Malte Thießen: Ich grätsche hier noch mal kurz dazwischen. Der LWL gibt nämlich nicht nur Geld dazu, wenn Menschen in Wohnungen eingezogen sind, sondern auch wenn extra Wohnungen für Housing First gekauft, saniert oder neu gebaut werden. Bis zu 40.000 € können gefördert werden. So eine finanzielle Absicherung ist natürlich toll, aber nicht der einzige Grund, dass Menschen ihren Wohnraum für Housing First zur Verfügung stellen.
Verena Feller: Und natürlich haben wir auch Vermieter in Privatpersonen, die auch ein Stück weit einen altruistischen Ansatz haben und sagen: Ich möchte auch irgendwie was Gutes tun und ich hab jetzt irgendwie eine Wohnung, bekommen dafür dann auch eine Förderung, kann das gut gemeinsam in Einklang bringen und kann mir vorstellen, es auszuprobieren. Und was wir festgestellt haben, ist, dass das in den Regionen meistens anfängt, dass eine Person das Risiko eingeht und dann sich das ein Stück weit rumspricht. Also, dass sowohl wir als Landschaftsverband als auch die Träger vor Ort als auch die Vermieter sagen können: Wir haben hier jetzt schon meine Erfahrung gemacht und das lief richtig gut.
Malte Thießen: Volker Eichhof ist 62 Jahre alt, ein großer Mann in rotem Blaumann. Seit 1998 vermietet er Wohnungen.
Volker Eickhoff: Das Ganze ist aus einer Laune heraus geboren.
Malte Thießen: Sein Vater gibt ihm den gut gemeinten Rat, etwas aus seinem Leben zu machen. Und prompt entscheiden die beiden Männer, ein Haus zu kaufen, um es zu vermieten.
Volker Eickhoff: Als wir das Haus gekauft haben, konnte ich drei Wochen nicht schlafen, weil ich mir einfach die Menge an Geld, was wir jetzt aufgenommen hatten, nicht vorstellen konnte. Und dann ergab sich das daraus, dass wir natürlich viele Häuser angesehen hatten, die dann auf einmal drastisch im Preis fielen und wir diese Angebote wieder bekamen. Und dann haben wir da halt noch eins gekauft und dann haben wir noch eins gekauft.
Malte Thießen: Heute besitzt und vermietet er über 250 Wohnungen.
Volker Eickhoff: Mit steigender Tendenz. Wir wollen also, wenn das gut geht, zwei Jahren vielleicht mal die drei vorne sehen.
Malte Thießen: Eines Tages liegt Post in seinem Briefkasten.
Volker Eickhoff: Vom Hexenhaus, die für sozial Benachteiligte sich engagieren. Und die hatten eingeladen zu einer Veranstaltung Housing first. Ja, und da ich an dem Tag gerade nichts vorhatte, habe ich mir gedacht, ich schau mir das mal an! Was mich daran fasziniert hat, war die Zusage, dass die Herrschaften, denen mal eine Chance auf eine Wohnung gibt, dass die kontrolliert werden und zwar betreut in jeglicher Form dann, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Meistens sind das ja Probleme, die mit Zahlungen zu tun haben, wo dann auch klargestellt wird, dass das eine Sache ist, wo man sich drum kümmert. Es wurde auch gleich klargestellt, dass diese Herrschaften ein bisschen speziell sind und wir hatten hier ein Haus, gerade was wir gekauft haben, zwei Wohnungen und gut 50 Quadratmeter. Und dachte: probieren wir es aus.
Malte Thießen: Gesagt, getan. Und einer der neuen Mieter heißt Ertun Sakaya. Mittlerweile lebt er seit über einem halben Jahr in seiner neuen Wohnung, und Volker Eickhoff könnte über seinen neuen Mieter kaum glücklicher sein.
Volker Eickhoff: Da muss ich ganz ehrlich sagen, bis heute optimal. Wirklich nicht wenig Stress, gar keinen. Überhaupt nicht. Man kann schon fast sagen: Besser kann es nicht laufen, muss man einfach mal sagen. Da sind natürlich auch viele Leute da involviert.
Verena Feller: Was auch dazu beiträgt, dass so wenig passiert. Das sind die Unterstützungsleistungen, die wir niedrigschwellig zur Verfügung stellen, also refinanzieren. Wir bezahlen die Sozialarbeiter dafür, dass die dann vor Ort sind und das über eine sehr niedrigschwellige Art und Weise, so dass die Personen auch mal hinfahren können, obwohl sie keinen Termin haben, dass sie mal anrufen können und fragen können: Wie sieht es denn aus? Aber die Mieter werden auch die Möglichkeit haben, mal irgendwie ein, zwei Wochen zu sagen: Ich möchte mal meine Ruhe, dann ist das auch völlig okay, wenn da niemand hinfährt. Aber diese Sicherheit auf beiden Seiten. Sowohl die Vermieter haben Ansprechpartner und können sagen, der Nachbar hat gestern angerufen, aber irgendwie bis 2:00 nachts Party, Was ist da los? War das eine Ausnahme oder kommt das häufiger vor? Aber auch die Mieter haben Ansprechpartner. Wir hatten zum Beispiel auch einen Fall, da war die Nachbarschaft relativ übergriffig. Also die haben sowas wie Müll kontrolliert und haben irgendwie den Vermieter angerufen, weil die mal zwei Tage nicht im Postkasten nachgeguckt hat. Da hat dann auch die Misere bei dem Sozialarbeiter angerufen und gesagt: Entschuldigung, könnten Sie mir da vielleicht mal helfen in der Vermittlung, dass das ein bisschen übergriffig ist? Und da kann Sozialarbeit viel machen und viel auffangen
Matthias Munko: Ja, mein Name ist Matthias Munko. Ich bin von Hause aus Diplompädagoge und arbeite seit elfeinhalb Jahren in der Wohnungslosenhilfe. In diesem Projekt jetzt hier etwas über zwei Jahre.
Malte Thießen: Den Kontakt zu Matthias Munko hat Ertun Sakaya von einem Bekannten bekommen. Matthias Mongo ist so ein bisschen der Typ 68, er klassischer Sozialpädagoge, könnte man vielleicht sagen.
Matthias Munko: Durch unser beiderlei, sage ich mal, türkischen Hintergrund war das dann aber doch ganz sympathisch. Und ich mag auch von Natur aus schräge Leute.
Malte Thießen: Matthias Munko war es, der ihm geholfen hat, über das Housing First an eine Wohnung zu kommen. Und er ist es, der Ertun Sakaya dabei hilft, sich darin auch zurechtzufinden.
Matthias Munko: Ich bin eigentlich auch von Natur aus kein Handwerker, sondern eher auch so ein Schreibtischtäter. Und Herr Sakaya hat diese Wohnung bekommen, angemietet, die war ja leer. Da kann er eigentlich nicht wohnen. Also da, das muss alles eingerichtet werden. Also es war gar nichts da. Er hat also nur ein paar Tüten mit Klamotten da rumliegen. Ja, und dann haben wir in den ganzen Wochen immer irgendwie geguckt, sind durchgefahren und dann stand plötzlich ein Kühlschrank im Sperrmüll, der ging sogar mit Eisfach, und haben uns da so die Sachen zusammengesucht. Und ich habe auch privat sehr viele Haushaltsauflösungen gehabt da und und habe immer geguckt und gesammelt und wir haben sehr, sehr gut gewirtschaftet. Ich bin bis heute sehr stolz darauf, dass wir die Wohnung fast komplett ausgestattet haben und es ist noch ein bisschen Geld übrig, um dann noch ein paar Sachen noch zu verfeinern.
Malte Thießen: Ertun Sakaya lebt in dieser Wohnung nun schon seit über einem halben Jahr. Klar, dass sie für ihn ein Stück mehr Sicherheit bietet, aber es ist auch eine Umstellung.
Ertun Sakaya: Also ich muss mehr aufräumen, mehr putzen. Ich habe grade erst letzte Woche einen Staubsauger klargemacht. Ich muss mich daran gewöhnen. Manche machen Krümel und nehmen das sofort weg. Ich lass das zehn Tage liegen, den Krümmel. Das ist das Problem. Daran muss ich noch arbeiten.
Malte Thießen: Die Wohnung ist verhältnismäßig schnell eingerichtet. An Staubsaugen kann man sich gewöhnen. Aber es geht um viel mehr als nur Putzen. Die Frage ist vielmehr: Hat die neue Wohnung den gewünschten Effekt? Denn der Gedanke von Housing First ist ja, dass erst mit der Wohnung alle weiteren Probleme der Menschen angegangen werden können. Matthias Munko hilft, wo er kann. Aber es gibt Probleme, da kommt auch er nicht weiter. Arbeitslosigkeit, Armut, Einsamkeit.
Ertun Sakaya: Also ich will auf jeden Fall eine Katze und eine Freundin und einen Minijob.
Matthias Munko: Und dann wäre jetzt auch ein nächster Schritt, ihn darin zu unterstützen, dass er vielleicht irgendwie ins Bewerbungscenter kommt oder so, wo die mit ihm mal eine Bewerbungsunterlagen fertig machen, dass er dann zumindest irgendwie in einen Minijob kommt. Also er ist handwerklich auch sehr versiert, er hat ja eine KFZ-Ausbildung und wir haben dann zusammen die Küchenplatte montiert und die hatte so ein bisschen Kratzer und Farbspuren und dann habe ich so ein schwarzes Spray mitgebracht und habe da völlig dilettantisch, weil ich bin ja auch nicht so handwerklich begabt, das irgendwie drauf geklatscht. Dann hat er mir das Ding aus der Hand gerissen, sagte: “Nee, so macht man das nicht”, weil er natürlich lackieren kann als KFZ-Mechaniker und hat da ganz souverän die Platte eingesprüht. Das war schon toll.
Malte Thießen: Auch groß angelegte Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass neben der Wohnung allein die sozialpädagogische Unterstützung der entscheidende Faktor sein kann, ob sich die Lebenssituation der Menschen nachhaltig verbessert. Und auch das ist Ziel des Housing First Projekts: Erfahrungen sammeln, sehen, was gut läuft und an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss.
Malte Thießen: Was sind denn so die, die die größten Herausforderungen sowohl die ihr bewältigt habt, als auch die vielleicht auch noch anstehen, wo ihr noch ran müsst?
Verena Feller: Die größte Herausforderung, die wir in manchen Regionen schon gemeistert haben und in manchen noch nicht, ist, den ersten Schritt zu machen. Also diese erste Wohnung. Den ersten Investor oder Investoren zu finden, der sagt: Ich mache das jetzt und ich lass mich darauf ein. Das ist oft die größte Herausforderung. Da arbeiten wir wirklich ganz eng, wie ich gerade ja auch schon gesagt habe, mit den Akteuren vor Ort zusammen und schauen, dass wir da wirklich in einem offenen Austausch - es geht nicht darum, etwas zu verschönigen oder etwas irgendwie als problemlos darzustellen, sondern wirklich in einen offenen Austausch zu gehen mit den Vermieterinnen und zu sagen: Könnt ihr euch das vorstellen, das mit uns gemeinsam zu machen? Wir fangen auch ganz oft einfach mit einer Wohnung an und sagen, wir probieren es jetzt erst mal ein paar Wochen und ein paar Monate aus, bevor wir dann die nächste und übernächste Wohnung fördern, weil wir uns da alle in der Region dann noch herantasten müssen. Wie kann das überhaupt umgesetzt werden? Und die andere große Herausforderung ist auch kein Geheimnis, dass ist der Wohnungsmarkt grundsätzlich. Egal ob ich kaufe oder Wohnraum im Bestand habe. Wir haben eine unfassbar geringe Leerstandsquote. Wir haben unfassbare geringe Zahlen an Verkauf von Wohnraum. Und dann sind wir auch noch darauf angewiesen, dass die Wohnungen so ausgestattet sind, dass sie bezahlbar sind für die Personen. Das heißt, oft werden sie bezahlt vom Jobcenter, also Bürgergeld oder vom Sozialamt, Grundsicherung. Und da gibt es bestimmte Mietpreise, die eingehalten werden müssen. Das ist je nach Region unterschiedlich. Das ist wirklich eine der größten Herausforderungen, eine viel größere, als Personen davon zu überzeugen, dass wohnungslose Menschen nicht jede Wohnung zerlegen und nicht die schlimmsten Mieter sind, sondern eigentlich genauso Menschen wie jede andere auch und einfach Wohnraum benötigen.
Malte Thießen: Das ist auch der Hebel, den ihr dann habt, den Wohnungsmarkt werdet ihr jetzt nicht, auch nicht in der Laufzeit, die ihr für Housing First angesetzt habt, dann positiv verändern können. Aber was sind denn auch die Erfolge? Das schon zwischendurch beschrieben, was gut läuft, was auch erstaunlich gut läuft.
Verena Feller: Also ich finde, ein großer Erfolg ist, dass wir Stand heute 46 Wohnungen gefördert haben, also 46 mal Menschen überzeugen konnten, dass sie Wohnraum zur Verfügung stellen und das in dieser Marktlage und wir dadurch Menschen in Wohnraum bringen konnten, die gar nicht mehr eine Option für sich darauf erschlossen haben, die sie für sich selbst gar nicht mehr in dieser Position waren, weil sie sich eh aufgegeben haben und da wirklich Menschen zu vermitteln, ich sage das immer so ein bisschen, die gar nicht mehr in der Schlange der Wohnungsbesichtigung standen, die stehen nicht am Ende wie viele andere benachteiligte Personengruppen, sondern die stehen gar nicht mehr in der Schlange, weil die von sich selbst oder von allen anderen aufgegeben wurden. Das ist so ein großer Erfolg. Das ist unfassbar, wie viel Wohnraum wir schon schaffen konnten. Und diese einzelnen Geschichten. Wir kriegen ja, wenn eine Person einzieht, geschildert, wie die aktuelle Lebenssituation von der Person ist. Manchmal kriegen wir auch ein bisschen mehr mit. Und wenn wir dann hören, dass eine Person, die aus ganz vielen Einrichtungen schon rausgeflogen ist, weil die eine psychische Erkrankung mitbringt, die das Zusammenleben einfach sehr schwierig macht, die auch ein großes Vertrauensproblem hat und dazu neigt, Hilfen zu beenden und wir diese Person jetzt schon seit einem dreiviertel Jahr eine Wohnung vermitteln konnten. Und da gab es auch schon Herausforderungen. Aber die Person wohnt dort und nimmt mittlerweile auch Unterstützungsleistungen an, das ist großartig, dass wir so eine Person vermitteln konnten, die vorher irgendwie nach einem halben Jahr spätestens aus einem rausgeflogen ist. Und wir hatten mit dieser Dame auch eine Situation, da hat sie in einer Phase, wo ihre Krankheit ganz schlimm war, wo sie eine Psychose hatte, dann hat sie ein Fenster kaputt gemacht in der Wohnung und sie hat das ganz lange gar nicht erzählt und irgendwann, der Vermieter hat dann gemerkt, so dass das Fenster kaputt ist und hat versucht, Kontakt aufzubauen, was ein bisschen schwierig war. Aber irgendwann hat es dann geklappt und dann hat sie auch erzählt: Ja, ich habe das Fenster kaputt gemacht, ich pack meine Koffer und sie wollte schon ausziehen, weil sie für sich das so verinnerlicht hat. Wenn ich eine Psychose habe, wenn ich was kaputt mache, wenn ich ausflippe, in Anführungszeichen, so hat sie das selbst beschrieben, dann fliege ich aus meiner Wohnung, dann fliege ich aus meinem Wohnraum. Ich fliege dann aus einer stationären Einrichtung aus dem betreuten Wohnen. Und dann war das erst mal eine große Aufgabe für alle Beteiligten, zu sagen: Nee, tun Sie bitte nicht. Packen Sie bitte nicht Ihre Koffer, wir reparieren das. Wir haben das dann auch bezahlt. Die Reparatur für das Fenster über die Förderung. Und die Frau wohnt da jetzt immer noch. Und dieser Schritt zu sagen: Ja, es ist ein Schaden entstanden. Dafür gibt es unsere Förderung. Das fangen wir zum Teil mit auf und die Frau darf dort wohnen bleiben. Für sie zu wissen, diese Erfahrung zu haben. Ich musste diesen Wohnraum nicht verlassen. Es ist großartig.
Malte Thießen: Ich denke, es wird klar, dass mit einer Wohnung allein noch nicht alle Probleme vom Tisch sind. Aber eine Wohnung ist - neben den ganz praktischen Dingen wie einem Ort zum Essen, Schlafen und Duschen - ein eigener Ort, wo man zur Ruhe kommen kann, wo man Vertrauen und Kraft schöpfen kann für alles, was sonst noch so ansteht. Und diesen Ort schafft Housing First. Und auch wenn für Ertun Sakaya noch wirklich viel ansteht. Er grinst über beide Ohren, als er uns seinen Schlüssel zeigt.
Ertun Sakaya:
Immer wenn ich keinen Bock mehr habe, packe ich meinen Schlüssel aus und gehe nach Hause, habe meine Ruhe. Dass ich den Schlüssel habe, zur Wohnung, das finde ich gut. Freiheit.
Malte Thießen: Das war der LWL-Podcast “Mit Sinn und Verband”. Mein Name ist Malte Thießen und ich bedanke mich herzlich bei allen, die mit uns für diese Folge gesprochen haben. Vielen Dank an Verena Feller vom LWL, die uns ihre geballte Expertise zur Verfügung gestellt hat. Danke an Volker Eickhoff und Matthias Munko, die uns von ihren Erfahrungen mit dem Housing First erzählt haben. Und ein ganz besonderer Dank geht an Ertun Sakaya, der uns so offen von seiner Geschichte erzählt hat.
Mit Sinn und Verstand ist eine Produktion des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe. Skript und Recherche Johanna Burkhardt und Marc Stefan Andres. Produktion: Johanne Burkhardt.