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Illustration eines Mädchens, das traurig nach unten schaut

Mama hat Alzheimer

Wenn Menschen im jungen Erwachsenenalter an einer Demenz erkranken, sind oft auch deren Kinder von der Erkrankung betroffen. Viele von ihnen müssen neben Schule und Freizeit plötzlich pflegende Aufgaben übernehmen – und das während ihrer Pubertät, einer sowieso schon nicht einfachen Lebensphase.

① Die Familie leidet

Als Julia in die Pubertät kommt, verändert sich das Verhältnis zu ihrer Mutter. Es gibt mehr Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Ansichten darüber, wie ordentlich das Zimmer aufgeräumt sein muss, welche Kleidung die richtige für die Schule ist. Nichts Besonderes, die Pubertät eben, denn im Großen und Ganzen verstehen sich die beiden gut. Die Beziehung bleibt nah und liebevoll.

Um Julias 14. Geburtstag herum jedoch verändert sich etwas Grundlegendes. Ihre Mutter ist immer öfter unfreundlich zu ihr, unfair, ungerecht. Sie schiebt ihr – und ihrem zwei Jahre älteren Bruder – alles zu, was zuhause schiefläuft: Es ist zu wenig für das Abendessen da, obwohl die Mutter einkaufen wollte; die Verabredung mit einer befreundeten Familie findet nicht statt, weil die Mutter dort nicht angerufen hatte; die Waschmaschine, die die Mutter anstellen wollte, war nicht gelaufen. Schuld daran ist Julia, sagt die Mutter. Auch mit dem Vater gibt es immer öfter lautstarken Streit, wegen Kleinigkeiten. 

Illustration, in der eine Mutter und ihre Tochter in der Küche streiten. Die Mutter gestikuliert aufgebracht.

Die Familie leidet unter der Situation, schiebt sie auf die Wechseljahre, immerhin ist die Mutter schon Ende 40. Bis die Streits und Auffälligkeiten nach fast fünf Jahren Leidenszeit zu viel werden, zumal die Mutter immer öfter Kleinigkeiten doppelt, dreifach erzählt. Endlich geht sie zu Ärzten, die zunächst keine Diagnose finden, bis eine Psychiaterin eine Alzheimer-Demenz feststellt.

 

Durchkreuzte Lebenspläne

Der Schock ist groß, niemand in der Familie oder auch im Umfeld weiß, dass die Krankheit so früh auftreten kann. Dabei sind von einer Demenz im jüngeren Alter zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr zwischen 30.000 und 40.000 Menschen betroffen – und in jeder dritten dieser Familien leben Kinder unter 18 Jahren. Die Ursachen sind höchst unterschiedlich, von einer Alzheimer-Erkrankung über eine frontotemporale Demenzerkrankung bis hin zu den Folgen von Multipler Sklerose, HIV, eines Schädelhirntraumas oder einer Alkoholabhängigkeit.

Für Julias Mutter verändert sich alles. Sie weiß, dass sie unheilbar erkrankt ist und dass sich in den kommenden Jahren ihr Wesen immer weiter verändern wird. Der Vater muss nun alleine für die Familie sorgen, die Mutter kann nicht mehr arbeiten. Auch für Julia und ihren Bruder wandelt sich das Leben. Aus unbeschwerten Teenagern werden zwei junge Menschen, die Verantwortung übernehmen müssen. Sie müssen ihre Bedürfnisse zurückstellen, sich kümmern, um Alltagsdinge wie den Haushalt, aber auch um das Wohlbefinden ihrer Mutter.

Illustration einer Gruppe aus fünf jungen Menschen und einer Therapeutin in einem Halbkreis

② Die Kinder nicht vergessen

Hilfen gab es für die Jugendlichen kaum, bis das LWL-Universitätsklinikum Bochum das Projekt KIDSDEM anstößt: Eine Gesprächs- und Aktionsgruppe für die Kinder von jung an Demenz Erkrankten.

„In unserer Gedächtnissprechstunde habe ich oft jüngere Menschen mit einer Demenzerkrankung behandelt“, berichtet Dr. Ute Brüne-Cohrs über den Startpunkt des Projekts. „Dabei ist mir aufgefallen, dass sich um die Kinder und Jugendlichen, die in den Familien leben, niemand so richtig kümmert“, sagt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Geriatrie und Palliativmedizin am LWL-Universitätsklinikum Bochum, die dort auch die Ambulanz für psychische Erkrankungen des höheren Lebensalters durchführt.

Die Eltern hätten in den Gesprächen oft erzählt, dass die Kinder gut zurechtkämen, in der Schule funktionierten und nicht sonderlich auffielen. „Das habe ich bezweifelt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass eine solche Erkrankung keine Folgen gerade für pubertierende Jugendliche haben sollte.“ Kinder, so Ute Brüne-Cohrs, würden oft nicht in die Diagnose miteinbezogen, fänden niemanden, mit dem sie das Erlebte besprechen könnten, würden teilweise keine Freunde mehr mit nach Hause bringen, weil sie nie wüssten, wie sich der erkrankte Elternteil zu Hause verhalten würde.

Dr. Ute Brüne-Cohrs, Ärztin am LWL-Universitätsklinikum Bochum

Ute Brüne-Cohrs möchte etwas tun, um den Jugendlichen gerade in dieser wichtigen Phase ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu helfen. Sie spricht die VINZENZ gGmbH an, eine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung in Bochum, mit der es schon eine Zusammenarbeit für Kinder von anderweitig psychisch erkrankten Eltern gab.

Die Projektpartner wenden sich an die Bochumer Alzheimer Gesellschaft, die im Vorfeld Gespräche mit dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS NRW) führt und die Not der betroffenen Familien schildert. Zu dritt formulieren sie einen Antrag an das MAGS NRW – denn ein nachhaltig wirkendes Angebot muss gut finanziert sein. Das MAGS NRW hat 50 Prozent der Gesamtkosten von 240.000 Euro für das drei Jahre laufende Modellprojekt über den Landesförderplan Alter und Pflege finanziert, die anderen 50 Prozent übernahmen die Landesverbände der Pflegekassen und der Verband der privaten Pflegekassen.

③ In der Gruppe stärker werden

Die Gruppe, in der auch Julia und ihr Bruder mitmachen, startet im Jahr 2021. Anna Schorling von der VINZENZ gGmbH ist eine der drei Leiterinnen, die durch die Alzheimer Gesellschaft Bochum e. V. und die Fachleute des LWL intensiv vorbereitet wurden. Außerdem brachte die Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung ihre eigene Expertise ein, die sie in anderen sozialpädagogischen Gruppenangeboten etwa für Kinder psychisch erkrankter Eltern aufgebaut hat.

„Die Jugendlichen, die zu uns gekommen sind, haben sich sehr voneinander unterschieden: Kamen sie mit Geschwistern, welcher Elternteil war wie lange erkrankt, welche Symptome und Auffälligkeiten gab es, welche Aufgaben mussten sie übernehmen?“, erinnert sich die Sozialpädagogin an die erste Sitzung. Die Fragen waren wichtig, vor allem aber sollte es um die Jugendlichen selbst gehen. „Wir haben jede Gruppenstunde mit einer Befindlichkeitsrunde angefangen, damit die Jugendlichen erzählen konnten, wie es ihnen gerade geht“, beschreibt Anna Schorling das Konzept. Anschließend wurden entlastende Aktionen veranstaltet, vom Kicker oder Billard spielen bis hin zu Ausflügen.

Anna Schorling, Gruppenleiterin bei KIDSDEM

Durch thematische Angebote entstanden immer wieder Möglichkeiten, auch in die Tiefe zu gehen. „Wir haben uns intensiv mit den Jugendlichen und ihren Ressourcen beschäftigt, die sie teilweise noch gar nicht kannten“, sagt Anna Schorling. Wer noch außer ihnen von der Krankheit weiß, wer vielleicht unterstützen könnte und wie weit die Jugendlichen überhaupt Verantwortung übernehmen konnten, waren Fragen, die im engen Austausch beantwortet wurden.

„Julia zum Beispiel hat sich nach unseren Runden viel stärker nach außen geöffnet und ihren besten Freundinnen von der Krankheit der Mutter erzählt“, sagt Anna Schorling. „Für Julia hat sich dadurch enorm viel geändert, weil sie endlich nichts mehr verheimlichen musste.“ Die Jugendliche bekam Unterstützung durch ihre Freundinnen, in der Schule, aber auch, indem diese mal für die Familie einkaufen gingen oder einfach für Julia da waren.

④ Angebote für sorgende Partner und Partnerinnen

Auch Julias Vater konnte indirekt von KIDSDEM profitieren. Seine Kinder wurden durch ein Netzwerk unterstützt und mussten nicht mehr so viele emotionale Situationen alleine in der Familie klären.

Und: Er konnte an der Gruppe für sorgende Partnerinnen und Partner teilnehmen, die der andere Kooperationspartner und Antragsteller des Pilotprojekts, die Alzheimer Gesellschaft Bochum e. V., im Zuge von KIDSDEM gegründet hat.

Illustration von einem Mädchen, einem Jungen und ihrem Vater, die sich umarmen

Die Angehörigengruppe

„Ich hatte schon ganz am Anfang einige Anfragen, ob es so ein Angebot gäbe“, erzählt Barbara Crombach. „Wir haben eine solche Gruppe dann direkt gestartet, einmal im Monat“, sagt die Projektverantwortliche der Alzheimer Gesellschaft Bochum, die die Gruppe betreut und auch die Finanzen des Gesamtprojekts im Blick hat.

Barbara Crombach, Alzheimer Gesellschaft Bochum

Auch für Barbara Crombach ist die Angehörigengruppe etwas Besonderes, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer alle zwischen Ende 30 und Mitte 50 sind. „Sie stehen alle voll im Berufsleben, was etwas ganz anderes ist, weil wir ja in unseren üblichen Gruppen eher Seniorinnen und Senioren oder die erwachsenen Kinder der Erkrankten begleiten.“ Die Runde sucht dementsprechend auf unterschiedlichen Ebenen um Rat.

„Eine Demenzerkrankung in so jungem Lebensalter wirft das gesamte Familiensetting durcheinander“, sagt Barbara Crombach. Die Partnerinnen und Partner, die gerade noch Kinder miteinander großziehen, müssen sich nun um die jeweils Erkrankten kümmern, was in dieser Lebensphase vollkommen ungewöhnlich ist.“ Der Austausch berührt viele Sphären, sagt die Expertin. „Wir sprechen darüber, was gerade ganz aktuell passiert, über ganz pragmatische Themen wie etwa die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises oder eines Pflegegrades oder über emotionale und sehr sensible Themen, wie das Rollenverhältnis zwischen den Ehepartnern oder zu den Kindern.“

⑤ Wissenschaftliche Evaluation

Auch Prof. Dr. Georg Juckel hält das Projekt für wichtig, alleine schon deswegen, weil Kinder von Menschen mit psychischen Erkrankungen ein hohes Risiko haben, selbst im Laufe ihres Lebens eine psychische Krankheit zu entwickeln.

„Es gibt sehr viele Belege dafür, einerseits in der genetischen Forschung für eine familiäre Häufung, aber auch im Hinblick darauf, dass Kinder die Krankheiten quasi erlernen, wenn in der Familie psychische Probleme wie Depressionen, Angst oder Sucht vorkommen“, sagt der Ärztliche Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum.

„Deswegen ist es umso wichtiger, präventive Angebote zu machen, zu denen auch KIDSDEM zählt.“ Für andere psychische Erkrankungen hatte es auch schon zuvor solche Gruppen gegeben, mit dem Kooperationsprojekt wurde nun eine Lücke geschlossen. „Wir können mit KIDSDEM den Kindern bestimmte Verhaltensmaßgaben mitgeben, um ihnen das Leben leichter zu machen und auch ihre psychische Gesundheit zu schützen. Das ist uns sehr gut gelungen.“

Prof. Dr. Georg Juckel 

Die Zukunft von KIDSDEM

Das Projekt, das auch schon in zwei wissenschaftlichen Tagungen vorgestellt und mit Fachleuten diskutiert wurde, verläuft so erfolgreich, dass die Kooperationspartner weitermachen wollen. Georg Juckel hofft, dass KIDSDEM nach der Evaluation der Ergebnisse, die Ende 2024 weitgehend abgeschlossen sein wird, ein Routinebestandteil der Sprechstunden in der Klinik wird.

Die erste Auswertung der wissenschaftlichen Daten deutet darauf hin, dass die Kinder, auch wenn sie in der Pflege des erkrankten Elternteils noch gar nicht stark gefordert sind, bereits eine hohe psychische Belastung aufweisen. Diese hat im Verlauf des KIDSDEM-Projekts abgenommen. „Das könnte ein Indiz dafür sein, dass wir mit unserem Angebot ganz richtig liegen,“ sagt Dr. Ute Brüne-Cohrs. „Wir wollen zudem das Projekt über Bochums Grenzen hinaustragen, um Nachahmer zu finden“, ergänzt Georg Juckel noch. „Denn für die Jugendlichen ist es wichtig, dass sie kurze Wege haben, um neben ihrer täglichen Belastung durch Schule, Freizeit und eben die Erkrankung des Elternteils auch etwas für sich tun zu können.“

Buchtipp zum Thema:

"Brunnenstraße" von Andrea Sawatzki (2022)

Die deutsche Schauspielerin und Autorin Andrea Sawatzki beschreibt in ihrem autofiktionalen Roman "Brunnenstraße" ihre Kindheit mit einem früh an Alzheimer erkrankten Vater:

Keine Kindheit wie jede andere. Eine, die Andrea Sawatzki in intensiven Momenten erzählt: Der Journalist Günther Sawatzki gibt sein altes Leben auf, um mit seiner Geliebten zusammen zu sein, mit der er auch eine Tochter hat, Andrea. Bald stellt sich heraus, dass dieser weltläufige und gebildete Mann schwer krank ist. Das nicht einmal zehnjährige Mädchen muss sich um den Vater kümmern, dessen anfängliche Symptome der Vergesslichkeit schnell ernster werden. Bis zu einem katastrophalen Ende. Unerschrocken und fragend nähert sich Andrea Sawatzki ihrer eigenen Kindheit.

[Quelle: www.piper.de]

Titelseite des Buches "Brunnenstraße" von Andrea Sawatzki (Quelle: www.piper.de)