Endlich frei und selbstbestimmt
Mit dem Projekt Rabea unterstützt das LWL-Kinderheim in Hamm junge Frauen, die von Zwangsverheiratung und Ehrenmord bedroht sind. Durch ein deutschlandweites Netzwerk können sie an einem anderen Ort Sicherheit finden. Es ist eine Fahrt in ihr neues, selbstbestimmtes Leben.
① Dilara
Als Dilara zur Grundschule ging, war ihre Welt noch in Ordnung. Sie lebte mit ihren Eltern und ihren beiden Brüdern in einer mittelgroßen Stadt im Ruhrgebiet, hatte Freundinnen im Viertel und genoss es, in der Schule mit den anderen Kindern zu lernen und zu spielen. Der einzige Unterschied war, dass Dilara öfter als diese zuhause bleiben sollte, mit zur Moschee gehen, die religiösen Pflichten erfüllen. Ihr machte das nichts aus, sie war es gewohnt. Erst mit zwölf, 13 Jahren bemerkte sie, dass sie etwas störte. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen durfte sie am Nachmittag plötzlich nicht mehr raus, nicht ins Freibad. Sie musste ein Kopftuch tragen. „Ich habe für mich gemerkt, dass ich nicht selbstbestimmt leben konnte“, sagt Dilara heute, während sie in ihrer hell eingerichteten Zweizimmerwohnung am Küchentisch sitzt. „Damals konnte ich das natürlich noch nicht so formulieren, aber ich habe es gefühlt.“
Die 23-jährige Studentin erzählt sehr aufgeräumt von der Situation vor knapp zehn Jahren. „Es war alles vorgeschrieben: Wie hast du dich zu verhalten, wie zu kleiden, wie deine Freizeit zu gestalten, wobei es die eigentlich gar nicht gab“, sagt Dilara. „Ich bin aus der Schule gekommen, habe im Haushalt geholfen und war mit meinen Geschwistern unterwegs – und das war es auch.“ Sie darf nicht mit auf Klassenfahrt, die Freundinnen sieht sie außerhalb der Schule überhaupt nicht mehr, sie zieht sich zurück. Mit 15 realisiert sie, dass ihre Zukunft auch als Erwachsene nur innerhalb des strengen Familiensystems stattfinden wird. „Früher oder später hätte ich einen Mann aus der Heimat heiraten und Kinder bekommen müssen. So hätte ich zwar ein relativ akzeptables Leben führen können, aber es hätte mich nicht glücklich gemacht“, erinnert sie sich an die Zeit.
② Der erste Schritt
Dilara wendet sich an einen Lehrer in ihrer Schule, der sie schon mehrfach angesprochen hatte, weil sie im Unterricht immer stummer und zurückhaltender geworden war und in den Pausen oft alleine auf dem Schulhof gestanden hatte. Der Lehrer schaltet das Jugendamt in ihrer Stadt ein. Der Besuch dort findet heimlich statt und mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden. „In meiner Familie hätte das niemand verstanden, ich möchte mir die Folgen auch gar nicht ausmalen“, sagt sie.
Die Mitarbeiterin im Amt wiederum verweist Dilara an das LWL-Heilpädagogische Kinderheim in Hamm, das im Jahr 2008 das Programm „Rabea“ gegründet hat. Es bietet zwei Schutzplätze für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, die vor ihrer eigenen Familie geschützt werden müssen – etwa, weil Gewalt oder eine Zwangsverheiratung drohen. Die Einrichtung wird durch das Land unterstützt und nimmt Migrantinnen aus dem gesamten Bundesgebiet auf. Die pädagogischen Fachkräfte betreuen die jungen Frauen individuell und arbeiten eng mit Schulen, Ausbildungsstätten und Jugendämtern zusammen. Dabei sorgt vor allem ein besonderer, wenn auch harter Schritt für die Sicherheit der Mädchen: Sie ziehen so schnell wie möglich um und leben anonym an einem Ort weit weg von Zuhause.
Auch Dilara lebt heute nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern im Süden Deutschlands. Damals ist sie nur mit einem Koffer und einem Rucksack mit dem Zug in ihre neue Heimat gefahren. Die Entscheidung hat sie sich nicht leicht gemacht: „Du hast die größte Angst deines Lebens und fragst dich, ob das überhaupt das Richtige ist. Es gibt keinen familiären Rückhalt mehr, die feste Struktur im Leben, die ich kannte, fiel komplett weg“, erzählt Dilara.
③ Neue Freiheit – Neue Regeln
Die Freiheit, so beschreibt sie es, hat eben zwei Seiten. Sie stand gefühlt sehr allein da, musste viel Verantwortung selbst tragen, das Leben gestalten – und konnte aber endlich das machen, was sie selbst wollte: Alleine einkaufen gehen, ihre Kleidung aussuchen Menschen kennenlernen und Freundschaften schließen, eine Ausbildung machen, später dann ein Studium beginnen.
Für Antje Leitheiser ist Dilaras Geschichte typisch für die Mädchen, die sich an das LWL-Kinderheim wenden. „Wir haben viele Anfragen von Mädchen aus Familien mit Migrationshintergrund, die aus Angst zum Beispiel vor einer Zwangsheirat zu uns kommen“, sagt die Bereichsleiterin der LWL-Einrichtung, die das Konzept mitentwickelt hat. Mit einem Team betreut sie die Mädchen und jungen Frauen zwischen 14 und 27 Jahren im Konfliktfall. „In vielen Fällen müssen wir sehr schnell reagieren und die Mädchen direkt aufnehmen und zu einer Einrichtung an einem anderen Ort schicken. Nur so können wir verhindern, dass die Familie die Mädchen wiederfindet.“ Rabea nutzt dafür ein gut organisiertes Netzwerk, das sich über ganz Deutschland erstreckt. Wenn ein Mädchen zu einer der Einrichtungen geht, tauschen sich diese direkt untereinander über freie Plätze aus.
Wie im Fall von Dilara helfen dabei oft Vertrauenspersonen wie Lehrkräfte oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Jugendamt. Wenn der Schritt zu Rabea erst einmal gemacht ist, müssen sich die Mädchen vor allem am Anfang mit sehr strengen Regeln arrangieren. „Es gibt keinen Ausgang, wir nehmen das Handy weg“, sagt Antje Leitheiser. „Es ist einfach zu gefährlich, dass die Mädchen gesehen werden oder sich versehentlich verraten, etwa im Telefonat mit einer Freundin oder auch auf Social Media.“ Die Erfahrung zeigt, dass so etwas immer wieder passieren kann. „Wenn ein Mädchen zum Beispiel nun in Wuppertal lebt und im Telefonat von der Schwebebahn erzählt, steigt die Gefahr, entdeckt zu werden.“
Wohin die Mädchen geschickt werden, suchen die Mitarbeiterinnen von Rabea genau aus. Zum einen hängt es davon ab, in welchen Wohngruppen Plätze frei sind. Zum anderen spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle: „Wir können zum Beispiel nicht zwei junge Frauen mit einer bestimmten gleichen Religionszugehörigkeit zusammenbringen, weil die Gemeinschaften sehr gut vernetzt sind“, sagt Antje Leitheiser. Wenn eines der Mädchen zurückgehen wollen würde, wäre auch das andere gefährdet.
④ Eine neue Identität
Dilara fühlt sich in ihrer Wohngruppe direkt wohl. Die anderen Mädchen passen zu ihr, sie freunden sich miteinander an. Schnell geht sie auch wieder zur Schule, bekommt Struktur in den Alltag. Gleichzeitig lernt Dilara auch sich selbst noch einmal neu kennen. „Ich hatte eine neue Identität und hätte mich komplett neu erfinden können, was ich in Teilen auch gemacht habe.“ Ihr Charakter aber sei größtenteils schon gefestigt gewesen, daran habe sich nicht mehr viel geändert. „Ich habe vor allem die Freiheiten entdeckt, mein Leben so zu gestalten, wie ich möchte.“
Kontakt zu ihrer Familie hat sie anfangs nicht. „Der Gedanke kam mir oft, weil ich auch gerne wissen wollte, wie es meinen Eltern und meinen Geschwistern ging. Aber erst nach anderthalb Jahren habe ich mich wieder gemeldet und bin nun telefonisch öfter im Kontakt“, sagt Dilara. Wo sie lebt, was sie tut, hat sie aber nicht erzählt. „Ich habe mir gerade ein neues Leben aufgebaut, das möchte ich für mich alleine behalten.“
Den einen Weg, mit der Familie umzugehen, gibt es nicht, sagt auch Antje Leitheiser von Rabea. „Wir befähigen die Mädchen dazu, sich selbst zu schützen, indem sie so wenig wie möglich von sich erzählen“, beschreibt die Pädagogin das Vorgehen. Die ersten Telefonate finden in Begleitung statt, weil die Mitarbeiterinnen so besser darauf achten können, dass der Aufenthaltsort nicht versehentlich verraten wird.
Daneben geben sie ständig Tipps: Wenn die Mädchen zum Beispiel einmal draußen sind und jemand ihre Herkunftssprache spricht, sollten sie nicht darauf reagieren. Treffen sie doch einmal jemanden Bekanntes, sollten sie in einen Laden gehen und um Hilfe fragen. Und wenn sie irgendwann wieder mit Menschen aus dem alten Leben telefonieren oder sogar Social-Media-Kanäle nutzen, sollten sie möglichst keine konkreten Informationen teilen. In Extremfällen, in denen die jungen Frauen auch dauerhaft von konkreter Gewalt bedroht sind, können sie auch ihren Namen ändern. „Das ist gar nicht so einfach für sie, weil sie damit ihre ganze Identität abgeben müssten“, sagt Antje Leitheiser.
Ungefähr die Hälfte der Mädchen geht übrigens zu ihren Familien zurück. Vor allem jüngere hängen oft noch sehr an einem der Elternteile, den Geschwistern oder auch den Großeltern. Für Antje Leitheiser kann auch das ein Erfolg sein: „Dieser junge Mensch hat erlebt, das ihm geholfen wird, wenn er sich, wie zum Beispiel im Fall von Dilara, an einen Lehrer wendet.“ Die Mitarbeiterinnen geben den jungen Frauen immer mit, dass sie sich jederzeit melden können. Dilara hat nur noch losen Kontakt zu ihrer Wohngruppe, wird die Zeit aber nie vergessen. „Rabea ist zwar ein nur kurzer Stopp auf meinem Lebensweg, aber es ist ein Sprungbrett gewesen“, sagt die junge Frau. „Das Programm hat mir die Möglichkeit gegeben, behütet und nicht komplett auf mich alleine gestellt wieder ins Leben zu finden. Und jetzt geht mein Leben weiter, wie für jeden anderen.“
Das LWL-Heilpädagogische Kinderheim Hamm
Das LWL-Heilpädagogische Kinderheim Hamm ist eine Einrichtung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Trägerschaft des Landesjugendamtes. An über 30 Standorten bietet es diverse Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien an.
Das Programm "Rabea"
Rabea bietet Betroffenen Obhut und Schutz vor familiärer Gewalt. Die Kontaktaufnahme zu Rabea ist der erste Schritt in ein selbstbestimmtes, freies Leben.
Kontakt
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LWL-Heilpädagogisches Kinderheim Hamm
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