Nicht nur mit den Augen sehen
Im Schulzentrum in Horn-Bad Meinberg arbeitet Thomas Kviring. Seine graue Kochjacke mit den blauen Knöpfen ist frisch gebügelt, die dunkelblau-weiß gestreifte Hose sitzt, genauso wie die Handgriffe des 38-Jährigen, der gerade parallel Frikadellen in einem Ofen brät, Paprika putzt und in der Pfanne erwärmt und dann auch noch Schupfnudeln kurz erhitzt.
Arbeiten unter besonderen Umständen
Dass der gebürtige Ukrainer so gut wie nichts sehen kann – das erkennt man erst, als seine Frau Jennifer, die ebenfalls in der Küche arbeitet, mit ihm einige braune Champignons auf kleine Erdrückstände untersucht. Ganz genau schaut er aus wenigen Zentimetern Entfernung auf die Pilze, streicht sie vorsichtig mit einem weißen Küchentuch ab, während seine Frau hin und wieder auf die schwarzen Pünktchen deutet.
Der Lippische Kombi-Service beschäftigt als Inklusionsbetrieb zwischen 30 und 50 Prozent Menschen mit Behinderungen.
Thomas Kviring
Der Weg zum Lippischen Kombi-Service
Thomas Kviring ist einer der Küchenleiter des Lippischen Kombi-Service (LKS), für den in ganz Ostwestfalen an 35 Standorten 230 Menschen arbeiten, vor allem in Kantinen und Mensen. Der Inklusionsbetrieb beschäftigt zwischen 30 und 50 Prozent Menschen mit Behinderungen. Seinen Job hier hat Kviring seit 2015. Nach solch einer Karriere sah es in seiner Kindheit und Jugend überhaupt nicht aus.
„Ich war von Geburt an sehbehindert“,
erzählt der Koch, der 1982 in einem kleinen Dorf geboren wurde. Er hat gleich mehrere Krankheiten, einen „rotatorischen Nystagmus“ zum Beispiel, bei dem beide Augen unkontrolliert zittern oder zucken und der es ihm unmöglich macht, Dinge scharf zu sehen. Dazu kommen eine Rot-Grün-Schwäche, sehr starke Kurzsichtigkeit und eine Hornhautverkrümmung.
„In Deutschland habe ich zum ersten Mal Unterstützung bekommen, ich hatte nicht mal eine Brille, das konntest du auf dem Dorf vergessen.“
Umzug nach Deutschland
Als er 14 Jahre alt ist, zieht die Familie nach Deutschland. Der Jugendliche besucht die Opticus-Schule in Bielefeld, eine LWL-Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Sehen. Er hat es nicht einfach, spricht zwei Jahre lang kaum Deutsch, muss die 7. Klasse wiederholen. Heute kann er sich perfekt verständigen, geholfen hat dabei auch eine Klassenfahrt. „Da ging es nicht mehr anders, ich musste das einfach lernen.“
LWL-Bildungswerk Soest
Mit 16 Jahren bekommt Kviring seine erste Brille, das Glas ist 1,1 Zentimeter dick. Er hat minus 19 Dioptrien auf dem rechten, minus 14 auf dem linken Auge.
Zum Vergleich: Bereits bei minus 5 Dioptrien kann man Dinge, die vom Auge weiter als 20 Zentimeter weg sind, nur noch undeutlich erkennen. Durch den „Nystagmus“ liegt seine Sehleistung außerdem unter einem Prozent.
„Ein paar Jahre später habe ich dann Kontaktlinsen bekommen. Die im LWL-Berufsbildungswerk in Soest haben festgestellt, dass das funktionieren könnte“, erzählt Kviring. Diese Hoffnung bewahrheitet sich, die Sehkraft des jungen Mannes verbessert sich deutlich, für ihn ist das ein riesiger Fortschritt.
Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker
Er kann eine Ausbildung machen, als Konstruktionsmechaniker, früher hätte man Schlosser dazu gesagt. Er lernt Schweißen, baut Treppengeländer, Tore oder Teile von Aufzügen. 2005 dann trifft ihn ein Todesfall in der Familie hart. „Ich war psychisch am Boden, habe fast ein ganzes Jahr nichts gemacht, das war eine schreckliche Zeit.“ Als er sich erholt hat, merkt er schnell, dass er in der Metallbranche ohne Führerschein kaum etwas anfangen kann.
„Ein Schweißer muss oft dahin, wo die Arbeit ist“,
sagt er heute. Er startet in der Kunststoffbearbeitung, baut zum Beispiel Luxustoilettendeckel aus Plexiglas, die nach Russland verkauft werden.
Bis ihn im Jahr 2009, nur eine Woche nach seiner Hochzeit, der nächste Schicksalsschlag trifft. Er muss jeden Tag bei der Arbeit tonnenweise Kunststoff heben und die Kraftanstrengung sorgt dafür, dass sich seine Netzhaut ablöst, bis auf die Makula, die dafür sorgt, dass wir scharf sehen können.
Umschulung beim Lippischen Kombi-Service (LKS)
Thomas Kviring will Koch werden
Mit der harten körperlichen Arbeit ist danach Schluss. Thomas Kviring erzählt, dass es wieder bergab mit ihm geht damals.
„Ich war richtig depressiv, wie sollte ich denn für meine Familie sorgen?“
Irgendwann holt er sich selbst aus der Schockstarre, macht eine Arbeitserprobung, an deren Ende zwei Vorschläge stehen: Masseur oder Beikoch. Kviring will Koch werden und er beweist, was er kann. Er macht ein Berufspraktikum, dann eine Umschulung beim LKS, die er 2015 erfolgreich beendet.
Beruf mit Verantwortung
Seitdem arbeitet er beim LKS fest angestellt – zunächst im Team eines anderen Kochs, seit 2018 als Leiter der Küche in Horn-Bad Meinberg. Hier ist er für fünf Beschäftigte verantwortlich, die für die Lernenden und Lehrenden des Gymnasiums und zum Beispiel auch für die Beschäftigten der Stadtverwaltung kochen.
Arbeitsalltag als Koch
Bei der Arbeit holt sich Thomas Kviring Hilfe, wo er kann.
Bei der Arbeit stört seine Sehbehinderung kaum. Das Kochen funktioniert, mit einer elektronischen Lupe kann er auch die Bestellungen beim Einkauf abwickeln und die Essenspläne zusammenstellen. Einzig bei der Sauberkeit hapert es, „ich kann es einfach nicht gut erkennen“, sagt Kviring. Seine Frau Jennifer, mit der er mit den drei Kindern drei Minuten zu Fuß von der Mensa wohnt, lacht laut,
„das kann man wohl sagen, wenn du zu Hause mal putzt, muss ich immer hinterher“.
Die gelernte Hauswirtschaftshelferin übernimmt oft die Aufgabe seiner Augen, so nennt er das. Sie kennt sich ebenfalls gut aus mit dem Problem, nicht richtig sehen zu können, lernte Thomas auf der LWL-Förderschule kennen.
„Ich kann mich einfach auf meine Frau verlassen.“
Bei der Arbeit hilft sie ihm neben ihren eigenen Aufgaben immer wieder mal, kontrolliert zum Beispiel, ob die Azubis – einen hat Kviring schon fertig ausgebildet – die Küche vernünftig wienern. „Er sieht auch nicht, ob auf dem grauen Boden hier eine Kartoffelschale liegt.“ Kviring gleicht das aber durch besondere Sorgfalt aus.
Mit Jennifer in der Küche – für Thomas Kviring ist das ein Traum.
„Ich kann mich einfach auf sie verlassen, wir wissen, wie wir ticken, und wissen auch, wann wir uns mal nicht einmischen sollten.“
Das ist entscheidend dafür, dass der Job klappt. Jennifer Kviring ist seit Dezember 2019 dabei. Beide hatten häufig nachgefragt, ob sie ebenfalls beim LKS arbeiten könne. „Wir haben lange gequengelt“, sagt Jennifer Kviring und grinst. Sie schaut ihren Mann an, nimmt seine Hand: „Das klappt jetzt richtig gut, oder?“
Gute Struktur und klare Arbeitsabläufe
Monika Zimmermann nickt. Die Chefin der LKS gGmbH hat bisher gemeinsam mit ihrem Küchenleiter Dennis Kent, der als erfahrener Kollege für mehrere Küchen verantwortlich ist, nur vom Nebentisch zugehört.
„Das stimmt wohl, wir sind dabei immer etwas vorsichtig, weil es mit Beziehungen am Arbeitsplatz natürlich auch immer mal Probleme geben kann – aber es kann auch Vorteile haben, wenn sich die Mitarbeitenden so gut kennen und aufeinander verlassen können.“
Bei den Kvirings funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut, meint Monika Zimmermann. Das Tempo muss ein wenig niedriger sein als in anderen Kantinen, damit die Arbeit funktioniert. „Und das Essen muss dennoch pünktlich auf dem Tisch stehen“, ergänzt sie. 200 Mittagessen kocht Kviring am Tag, das geht nur mit einer guten Struktur und klaren Arbeitsabläufen.
Gemeinsame Planung
Das bestätigt auch Dennis Kent.
„Ich plane zum Beispiel gemeinsam mit Thomas den Einkauf, den wir für eine Reihe von Küchen gemeinsam erledigen. Das spart Geld und Aufwand.“
Der Koch diskutiert mit Thomas Kviring und Monika Zimmermann heute auch die künftigen Einsatzmöglichkeiten des Küchenteams aus Horn-Bad Meinberg. Der Offene Ganztag der Schulen am Standort, die noch nicht in die Mensa kommen, soll mit Mittagessen versorgt werden. Die drei überlegen, wie sie das hinbekommen, schreiben Zahlen auf, rechnen, überlegen bis ins Detail. „Wie können wir die Kühltruhen besser ausnutzen?“, fragt Kviring zum Beispiel. „Aufbackbrezeln für die Pausen raus, stattdessen andere Vorräte rein“, antwortet Kent. „Dann müsst ihr die Brezeln einfach öfter und in kleinen Mengen bestellen.“
Immer neue Herausforderungen
Geschäftsführerin Monika Zimmermann fordert viel, zum Beispiel auch, dass die Mitglieder ihres Teams schnell lernen müssen.
„Das ist einfach wichtig, manchmal auch, um das Handicap besser ausgleichen zu können.“
Thomas Kviring muss sich zum Beispiel den Umgang mit Computer und Tablet aneignen, um besser und einfach zu kommunizieren. Er hat nicht so richtig Lust, sagt er, aber er lächelt auch. Er weiß, dass er das trotzdem machen wird. So wie immer in seinem Leben eben, wenn es für ihn eine neue Herausforderung gab.