10.12.25 | Psychiatrie "Alkoholabhängigkeit ist keine Charakterschwäche, sondern eine Erkrankung"
Psychologin der LWL-Klinik Dortmund über Sucht und Hilfsmöglichkeiten
Die Psychologische Psychotherapeutin Christine Stückemann spricht im Interview über Alkoholabhängigkeit und Hilfsmöglichkeiten.
Foto: LWL
Frage: Ein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, ein Sekt an Silvester, ein Bier beim Heimspiel: Alkohol begegnet uns in vielen Situationen und auf vielen Getränkekarten. Ist unser Umgang mit Alkohol zu sorglos?
Christine Stückemann (CS): Wenn wir uns in unserer Gesellschaft umsehen, entsteht der Eindruck, dass der regelmäßige Alkoholkonsum etwas "Normales" wäre. Doch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DEG) hat erst kürzlich die Gesundheitsrisikostufen des Alkoholkonsums neu bewertet. Bereits ab zwei alkoholischen Getränken pro Woche kann von einem geringen gesundheitlichen Risiko ausgegangen werden. Ab sechs alkoholischen Getränken wöchentlich wird von einem moderaten Risiko ausgegangen und ab sieben alkoholischen Getränken wöchentlich besteht ein hohes Risiko für körperliche oder psychische Folgeschäden. Somit bewegt sich eine Person, die täglich ein Bier trinkt, im hohen Risikobereich.
Frage: Wer auf einer Feier eine Flasche Bier trinkt, ist nicht zwangsläufig süchtig. Doch woran kann man Sucht überhaupt festmachen?
CS: Bei einer Abhängigkeit handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die sowohl das Verhalten als auch den Hirnstoffwechsel betrifft. Ein hartnäckiger Mythos ist, dass nur Menschen, die täglich Alkohol trinken, süchtig sein können. Dabei sind weder die Regelmäßigkeit noch die Konsummenge ausschlaggebend dafür, ob eine Alkoholabhängigkeit besteht. Im ICD, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, ist genau definiert, ab wann es sich um eine Abhängigkeit handelt. Hinweise darauf, ob eine Abhängigkeit vorliegt, liefert beispielsweise die Tatsache, ob jemand vor dem Konsum ein starkes körperliches und psychisches Verlangen nach Alkohol hat oder nach dem Konsum Entzugssymptome wie beispielsweise einen Tremor entwickelt. Entscheidend ist neben weiteren Faktoren auch, ob die Person unter Kontrollverlust leidet, die Konsumzeiten oder die Konsummengen nicht mehr kontrollieren kann oder ob sie bemerkt, dass sie mehr Alkohol benötigt, um dieselbe Rauschwirkung zu erzielen.
Frage: Manche Menschen sind süchtig, manche nicht. Ist das nicht einfach eine Frage der Disziplin?
CS: Alkoholabhängigkeit ist keine Charakterschwäche, sondern eine komplexe Erkrankung. Das Belohnungssystem wird durch Alkoholkonsum künstlich aktiviert, Dopamin wird ausgeschüttet - etwas, was dem Menschen gefällt und er gerne wiederholt erleben möchte. Zudem hemmt Alkohol die exekutiven Funktionen im Gehirn. Diese sind für die Verhaltenskontrolle zuständig. Bei einer Abhängigkeitserkrankung trifft also eine Substanz, die für sich genommen schon dazu führt, dass der Körper mehr von ihr möchte, auf eine deutliche Abschwächung der Kontrollinstanzen des menschlichen Verhaltens.
Frage: Was kann ich tun, wenn ich bei Menschen, die mir nahestehen, problematischen Alkoholkonsum vermute?
CS: Da es sich bei Alkoholabhängigkeit um eine Erkrankung handelt, die stark von Heimlichkeiten geprägt ist, ist es aus meiner Sicht enorm wichtig, Sorgen anzusprechen, sobald sie auftauchen. Viele Betroffene haben Angst vor Stigmatisierung und können es als Erleichterung erleben, wenn Freund:innen oder Familienmitglieder das Thema wertschätzend und verständnisvoll ansprechen. Um Betroffenen die Kontaktaufnahme zur Hilfeeinrichtungen zu erleichtern, kann es sich auch als gut erweisen, sie auf vorhandene Angebote hinzuweisen. Trotzdem sollten Angehörige immer im Hinterkopf haben, dass der Wunsch nach Auseinandersetzung mit der Problematik aus dem oder der Betroffenen selbst entstehen muss.
Frage: Wann ist es sinnvoll, sich professionelle Hilfe zu suchen? Welche Angebote gibt es?
CS: Generell gilt: so früh wie möglich! Das suchtmedizinische Behandlungsangebot ist glücklicherweise breit gefächert. Niederschwellige Angebote stellen die Suchtberatungsstellen jeder Stadt, Selbsthilfegruppen oder unser ambulantes Angebot "Frühintervention Alkohol" (FrIntA) der LWL-KLinik Dortmund dar. Sollte sich bereits eine körperliche Abhängigkeit mit Entzugssymptomen entwickelt haben, ist es möglich, in Psychiatrien oder somatischen Krankenhäusern zu entgiften. Um die Abstinenz danach langfristig zu sichern, empfiehlt sich eine suchtmedizinische Rehabilitation.
Frage: Ist der Gang zur Psychiatrie nicht übertrieben?
CS: In den Köpfen vieler Menschen herrscht noch ein sehr veraltetes Bild von Psychiatrie. Was oft nicht bekannt ist: Wir haben eine Suchtambulanz mit einer offenen Sprechstunde. Diese Sprechstunde ist für jede Person geeignet, die einen problematischen Konsum aufweist und dazu dient, das passende Behandlungsangebot zu ermitteln. Unsere Angebote sind facettenreich. Mit FrIntA gibt es etwa ein Angebot für den "Einstieg".
Frage: Wie funktioniert FrIntA genau?
CS: Bei FrIntA handelt sich um ein ambulantes Therapieangebot bestehend aus acht Terminen. Das Angebot beginnt mit einem Vorgespräch, gefolgt von sechs inhaltlichen Modulen und endet mit einem reflektierenden Abschlussgespräch. Die Modultermine finden wöchentlich statt und werden von Mitgliedern des FrIntA-Teams (Ärztin, Suchttherapeutin, Pflege, Psychologische Psychotherapeutin) geleitet. Ziel des Angebots ist es, sich kritisch mit dem eigenen Alkoholkonsum auseinanderzusetzen und diesen entweder zu reduzieren oder eine längerfristige Abstinenz anzustreben.
Frage: Haben Sie einen Rat für Menschen, die sich nicht sicher sind, ob ihr Alkoholkonsum oder der ihrer Angehörigen problematisch ist?
CS: Ich würde allen Menschen, die bereits darüber nachdenken, ob der eigene Alkoholkonsum oder der ihrer Angehörigen problematisch ist, raten, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Der Kontakt zu einem Angebot des ambulanten Suchthilfesystems ist unkompliziert möglich. Dort können Zweifel bezüglich des Konsumverhaltens entweder schnell ausgeräumt werden und sind somit nicht weiter belastend oder aber erste Interventionen zur Veränderung des problematischen Konsums begonnen werden.
Info:
Frühintervention Alkohol (FrIntA)
Das ambulante Angebot "Frühintervention Alkohol" (FrIntA) der LWL-Klinik Dortmund kann von Menschen ab 18 Jahren genutzt werden, die ihren Alkoholkonsum reduzieren wollen oder eine Abstinenz anstreben. Voraussetzungen sind, dass noch keine suchtmedizinische Behandlung in Anspruch genommen wurde sowie grundlegende Deutschkenntnisse für ein therapeutisches Gespräch. Die Kosten werden üblicherweise von der Krankenkasse übernommen. Das Erstgespräch muss in Präsenz stattfinden. Die weiteren Termine sind online möglich. Bei Interesse besteht die Möglichkeit zu einem Erstgespräch, um Fragen zu klären. Interessierte können telefonisch unter 0231 / 4503-2777 Kontakt aufnehmen oder per E-Mail an frinta@lwl.org.
Info:
Offene Sprechstunde
Die offene Sprechstunde der Suchtmedizinischen Ambulanz der LWL-Klinik Dortmund findet montags bis freitags von 9.30 bis 10.30 Uhr im Ambulanz-Zentrum auf dem Klinikgelände, Marbruchstraße 179, in Dortmund-Aplerbeck statt. Das Ambulanz-Zentrum befindet sich in Haus 5. Weitere Infos gibt es auf https://www.lwl-klinik-dortmund.de sowie unter Tel. 0231 / 4503-8000.
Pressekontakt
Philipp Stenger, LWL-Klinik Dortmund, Telefon: 0231 4503-3855
Der LWL im Überblick
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 21.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 20 Krankenhäuser, 18 Museen, zwei Besucherzentren und ist einer der größten Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
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