23.09.25 | Kultur "Mahlzeit!": Essen in aller Welt
Ab 3.10. zeigt das LWL-Museum in Herne ein georgisches Supra - Der Leihgeber im Interview
Dr. Zakharia Pourtskhvanidze, Frankfurter Sprachwissenschaftler und Philosoph.
Foto: Zakharia Pourtskhvanidze
Herr Pourtskhvanidze, was genau ist ein "Supra"?
Das Supra ist viel mehr als nur eine Tischdecke. Denn das bezeichnet der Begriff ursprünglich. Es wurde in der georgischen Kultur zum Phänomen für alles, was mit Zusammensitzen, Essen und Feiern zu tun hat. Also, wenn man sagt "ich sitze am Supra", heißt das: Man ist dabei, etwas zu feiern. Das muss nicht unbedingt aus Freude sein, es kann auch ein trauriger Anlass sein. Alles, was unser Leben ausmacht und wir auch jetzt nicht unbedingt allein austragen möchten, wird im Georgischen unter dem Begriff Supra zusammengefasst.
Gibt es einen festen Ablauf?
Zentral ist der "Tamada", der Toastmaster, der vor allem dafür zuständig ist, die Trinksprüche auszubringen. Das kann der Gastgeber selbst sein, der Hausherr oder der Älteste der Familie. Dieses Supra ist eine Bühne, auf der die Generationen zusammenkommen. Es gibt tatsächlich einen festen oder semi-festen Ablauf von Trinksprüchen. Man fängt mit dem seelischen Frieden eines Individuums an und bezieht diese Vorstellung auf den Frieden in der Welt. Der zweite Trinkspruch ist in der Regel der Grund, warum man zusammensitzt. Dann gibt es noch einen Punkt, ohne den es kein georgisches Supra gibt. Das ist der Trinkspruch für die Verstorbenen. Und interessant ist, unmittelbar nach diesem Trinkspruch hebt man das Glas auf die Kleinsten als Fortsetzung des Lebens. Ich habe Supras erlebt, an denen ich bis zu dreißig Trinksprüche gezählt habe. Eine große Gemeinschaft zu lenken und zu kontrollieren, dass diese nicht auseinanderfällt, ist eine Kunst.
Welche Gegenstände, die auch in der Sonderausstellung zu sehen sind, gehören dazu?
Das sind zunächst einmal die Gefäße, aus denen wir Wein trinken. Wein ist auch ein zentrales Phänomen unserer Kultur. Es heißt bei uns in Georgien: "8.000 Weinlesen haben wir hinter uns". Wichtig ist ein Krug, aus dem man gießt, georgisch heißt der "Doki", und ein Weinsack aus Leder, "Tiki". Die habe ich auch als Leihgaben nach Herne gegeben.
Woraus trinkt man?
Aus Trinkhörnern, die in Georgien ein Symbol für Gastfreundschaft und Festlichkeit sind. Es gibt wirklich einen ganzen Verhaltenskodex um diese technischen Gegenstände herum. Zum Beispiel bestimmt der Trinker oder die Trinkerin aus einem Trinkhorn, wer als nächstes trinkt. Und diese Weitergabe ist auch ein Mittel, jemandem Respekt zu zeigen: Du bist der nächste, der nach mir trinkt. Man darf zum Beispiel auch kein leeres Trinkhorn weitergeben. Das wäre beleidigend. Zur georgischen Tradition gehören auch Trinkschalen aus Bienenwachs. Sie sind mit verschiedenen Ornamenten zum Supra selbst versehen. Und natürlich das Tischtuch. Das ist auch mit Farben und Ornamenten verziert, die eine bestimmte Geschichte erzählen.
Wann und wie werden die Trinkhörner herumgegeben?
Wir sprechen zwar vom Tamada als einer zentralen Rolle, aber es gibt eine weitere Rolle. Das ist der Mensch, der dafür sorgt, dass die Gläser voll sind, der "Merikipe". Das ist in der Regel ein kräftiger Mann, der diesen Krug rumtragen kann, wenn er sieht, dass ein Trinkhorn leer daliegt oder der Tamada ihn beauftragt: "Bitte mach das voll und gib das dem und dem."
Sie erwähnten Trinksprüche. Worauf genau beziehen die sich?
Die Trinksprüche sind häufig sehr konkret, aber manchmal auch abstrakt. Wichtig ist, dass man authentisch bleibt und dass das, was man auf der Zunge hat, aus dem Herzen kommt. Mein Vater zum Beispiel trank immer auf die rechte Hand, also quasi die arbeitende Hand, die Hand, die uns ernährt. Sehr abstrakt. Mein Großvater trank immer sehr gerne für die Erde, die wir bearbeiten, beackern, die uns Früchte gibt, unsere Familie ernährt. Trinksprüche bilden im Endeffekt die georgische Geschichte ab, aber auch die georgische Alltagskultur über Generationen hinweg.
Haben die Jüngeren noch Interesse am Supra?
Die Gegenstände des Supras sind. Auslöser einer Identität. Wenn meine Kinder, die in Deutschland geboren sind, sie in Händen halten, wahren sie Familien- und Kulturgeschichte, geben sie bestenfalls weiter. Generell gibt es aber natürlich Versuche, das Prozedere zu modernisieren oder sogar zu transformieren. Vor ein oder zwei Jahren habe ich mal scherzhaft überlegt, eine Tamada-App zu entwickeln. Die Überlegung war: Man gibt einen Grund für die Feier ein und die spuckt Vorschläge für Trinksprüche mit Reihenfolge aus.
Ich habe erlebt, dass es in Georgien Berufs-Tamadas gibt. Die nehmen Geld, um Trinksprüche zu sprechen. Das ist nicht die Zukunft, hoffe ich. Momentan würde ich sagen, auch die neue Generation ist Teil dieser Esskultur. Wie prägnant diese Rolle ist, ist eine andere Sache. Für mich ist und bleibt das Supra noch immer die Bühne der Generationen. Das ist eine Chance.
Hintergrund
Dr. Zakharia Pourtskhvanidze promovierte 2011 an der Goethe-Universität in Frankfurt in Vergleichender Sprachwissenschaft und lehrte dort bis 2023 Linguistik. Aktuell leitet er die private Bildungs- und Forschungseinrichtung "Schöne Sprache" in Frankfurt/Main. Durch seine Arbeit in den Kulturvereinen "Caucasiada e.V." und "Georgica e.V." kam der Kontakt zum LWL-MAK zustande.
Sonderausstellung "Mahlzeit! Wie Essen uns verbindet" vom 3.10.2025 bis 13.9.2026 im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne
Gemeinsames Essen ist weit mehr als nur Nahrungsaufnahme. Ob beim königlichen Bankett, der einfachen Bauernmahlzeit, dem familiären Abendessen oder der gemeinsamen Mittagspause - überall offenbaren sich Fragen: Wer sitzt wo? Wer bekommt das beste Stück? Welche Rituale bestimmen das gemeinsame Mahl? Und was verrät das alles über Macht, Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Wandel und vor allem Kultur?
Von opulenten Festtafeln und rituellen Speisungen bis hin zu den Herausforderungen der Gegenwart - schnelle Snacks, digitale Ablenkung und der scheinbare Verlust gemeinsamer Rituale - zeigt die neue Sonderausstellung "Mahlzeit!", wie Essen seit Jahrtausenden als sozialer Klebstoff funktioniert.
Gefördert durch die LWL-Kulturstiftung.
Mehr Infos: https://www.lwl-landesmuseum-herne.de
LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Europaplatz 1, 44623 Herne, Tel. 02323 94628-0
Das "Supra", ursprünglich nur der Begriff für die Tischdecke, die auf einer Tafel liegt. Hier mit georgischer Schrift und in tiefblauer Farbe, welche traditionell Festlichkeit und Eleganz bedeutet.
Foto: Zakharia Pourtskhvanidze
Der "Doki" ist ein traditioneller georgischer Tonkrug zur Aufbewahrung und zum Ausschenken von Wein und Wasser.
Foto: Zakharia Pourtskhvanidze
Ledersäcke, sogenannte Tiki, sind Transportgefäße für Wein, die auch bei Festen verwendet werden. Die prachtvoll verzierten Tiki werden oft von Generation zur Generation weitergegeben.
Foto: Zakharia Pourtskhvanidze
Trinkhörner sind in Georgien ein Symbol für Gastfreundschaft und Festlichkeit. Doppelhörner werden besonders bei feierlichen Anlässen verwendet.
Foto: Zakharia Pourtskhvanidze
Pressekontakt
Frank Tafertshofer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Dr. Carolin Steimer, LWL-Archäologie für Westfalen, Telefon: 0251 591-3504
LWL-Museum für Archäologie und Kultur Herne
Westfälisches LandesmuseumEuropaplatz 1 44623 Herne Karte und Routenplaner
Der LWL im Überblick
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 20 Krankenhäuser, 18 Museen, zwei Besucherzentren und ist einer der größten Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
Zu allen Pressemitteilungen des LWL Zu allen Pressemitteilungen dieser LWL-Einrichtung