17.06.25 | Jugend und Schule "Endlich war ich nicht mehr die Blindeste"
Seit dem ersten Schuljahr besuchte Sabrina Führer LWL-Förderschulen - heute arbeitet sie an der Universität Witten-Herdecke
Sabrina Führer arbeitet seit einigen Jahren in der Telefonzentrale der Universität Witten-Herdecke.
Foto: LWL/Nikolaus Urban
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Witten/Soest (lwl). Sabrina Führer kam in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt, im Brutkasten löste sich ihre Netzhaut ab. Als Kind hatte sie noch minimale Sehreste, konnte Umrisse und Farben erkennen - doch in der Pubertät verschwand auch diese Wahrnehmung. Sie besuchte seit ihrem ersten Schuljahr LWL-Förderschulen - und arbeitet heute nach ihrer Lehre als Bürokauffrau an der Universität Witten-Herdecke. "Das Lernen mit anderen Kindern mit Seheinschränkungen hat meinen Weg mit geprägt", sagt sie.
Im Berufsalltag angekommen
Die Finger fliegen über die Braillezeile, während Sabrina Führer eine Mail am Computer liest. Es klingelt, ein Anruf geht ein. Die 43-Jährige nimmt ab. "Universität Witten-Herdecke, Telefonzentrale, mein Name ist Sabrina Führer. Wie kann ich Ihnen helfen?" Nach dem Gespräch lehnt sie sich zurück und spricht kurz mit einer Kollegin, die gerade in das Informationsbüro gekommen ist. Dann steht sie auf, es ist Mittagspause. Sabrina Führer entscheidet sich, eine Runde an die frische Luft zu gehen. Sie schnallt ihrer Blindenführhündin Reyka, die zwei Stunden lang ruhig neben ihr auf dem Boden gelegen hat, das Geschirr um. Zielstrebig laufen die beiden nebeneinander her, durch die erste Tür, eine Rampe hinunter, durch die große Eingangstür und treten aus dem Hauptgebäude der Hochschule hinaus.
Sabrina Führer kann auf ihrem linken Auge nur noch zwischen hell und dunkel unterscheiden, auf dem rechten ist sie vollkommen blind. Ihre Arbeit in der Telefonzentrale der Universität Witten-Herdecke schränkt das nicht ein. "Ich war schon immer sehr selbstständig", sagt sie. "Das wurde mir schon in meiner Kindheit beigebracht. Ich war ein Schlüsselkind, meine zwei älteren Brüder haben mich nicht verhätschelt, und ich musste mich oft gegen sie durchsetzen", erinnert sie sich. Doch wenn es darauf ankam, standen sie immer hinter ihr. Auch ihre Mutter behandelte sie nicht anders als andere Kinder. Sabrina kletterte auf Bäume, fuhr Fahrrad und Inlineskates - nach Gehör - und tobte mit Freunden durch die Straßen.
Nach ihrer Kindergartenzeit in einer Regeleinrichtung mit Frühförderung wechselte sie auf die Martin-Bartels-Schule in Dortmund, eine LWL-Förderschule für sehbehinderte Kinder. "Die meisten Schülerinnen und Schüler hatten mehr Sehkraft als ich. Beim Sport oder auch beim Lesen war ich deswegen immer ein bisschen hinterher", erzählt sie. Die Zeit habe sie aber auch gestärkt, sagt sie: "Ich habe früh gelernt, für mich einzustehen."
Auf dem Internat: unter Freund:innen mit ähnlichen Erfahrungen
Mit zehn Jahren zog sie ins Internat der Von-Vincke-Schule in Soest, ebenfalls eine LWL-Förderschule. "Das war eine tolle Zeit", schwärmt sie. "Endlich war ich nicht mehr die Blindeste. Da ich mit überwiegend sehenden Kindern aufgewachsen war, tat es mir gut, unter Blinde zu kommen." Viele Freundschaften von damals bestehen immer noch. Erst im vergangenen Jahr organisierte Sabrina Führer mit zwei Mitschüler:innen ein großes Ehemaligentreffen mit rund 100 Teilnehmenden.
Den Unterricht an der Schule hat sie ebenfalls in guter Erinnerung. Er fand in kleinen Klassen statt. Das machte intensives Lernen möglich. Außerdem war die Schule speziell auf taktiles Lernen ausgerichtet. Ein fühlbarer Globus und fühlbare Landkarten beispielsweise ließen Sabrina Führer von Soest aus die Welt entdecken.
Sabrina Führer schaut gerne auf ihre Schulzeit zurück und hält Förderschulen nach wie vor für relevant: "Inklusion ja, aber nicht um jeden Preis. Es sollte weiterhin Förderschulen geben, damit die Kinder, die bei der Inklusion nicht mitkommen würden, dort lernen können."
Schwierige Suche nach einem Ausbildungsplatz
Nach der Schule erwies sich die Suche nach einem Ausbildungsplatz als schwierig. "Viele Unternehmen wussten nicht, was sie mit einer blinden Auszubildenden anfangen sollten." Doch Sabrina Führer ließ sich nicht entmutigen. Sie nahm Kontakt zu den Berater:innen vom LWL-Programm "MobiliS" (https://www.lwl-bbw-soest.de/de/unterstutzung-und-beratung-fur-betriebe/mobilis-modular-unterstutzung-betrieblicher-berufsausbildung/) auf, das blinde und sehbehinderte Auszubildende sowie deren Ausbildungsbetriebe unterstützt und berät. Sabrina Führer hatte Erfolg bei ihrer Suche: 2002 begann sie ihre Ausbildung zur Bürokauffrau an der Universität Witten-Herdecke. Parallel dazu absolvierte sie ihre Berufsschule wiederum am LWL-Berufsbildungswerk Soest (https://www.lwl-bbw-soest.de/de/). Nach ihrer Ausbildung wurde sie übernommen, arbeitete zunächst in der Poststelle und im IT-Support und ist nun Ansprechpartnerin in der Telefonzentrale der Universität.
Auch ehrenamtlich engagiert
Sabrina Führer engagiert sich an vielen Stellen ehrenamtlich für die Belange von Menschen mit Sehbehinderungen. Sie berichtet zum Beispiel Studierenden über ihre Erfahrungen als Blinde. Die jungen Erwachsenen können auch Selbstversuche machen, angehende Zahnärzt:innen lernen beispielsweise den Umgang mit blinden Patient:innen. Der Fußballverein Schalke 04 ist ihre große Leidenschaft. Seit ihr Opa sie als Kind ins Stadion mitnahm, schlägt ihr Herz für den Club. Dabei ist auch der Fußball für sie mehr als nur ein Hobby. Sie engagiert sich in der "AG Schalke für alle", die Barrieren für Menschen mit Behinderungen abbaut. "Wir haben zum Beispiel dafür gesorgt, dass Blindenführhunde ins Stadion dürfen", erzählt sie stolz. Auch abseits des Stadions setzt sie sich für die Rechte blinder Menschen ein. Sie arbeitet im Leitungsteam des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Witten und berät ehrenamtlich Menschen mit Sehverlust im Verein "Blickpunkt Auge". "Ich habe immer für meinen Platz gekämpft - und das will ich weitergeben", sagt Sabrina Führer.
Blindenführhündin Reyka ist immer an der Seite von Sabrina Führer.
Foto: LWL/Nikolaus Urban
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Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235
Der LWL im Überblick
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 20.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 20 Krankenhäuser, 18 Museen, zwei Besucherzentren und ist einer der größten Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.
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