13.12.24 | Kultur Adventszeit vor 1900
Heischegänge und Bazare, Cigarrenabschnitt-Sammelvereine und Armenbescherungen, Wohltätigkeit und Emanzipation
So wie in den 1930er Jahren in Gronau-Epe zogen in der Adventszeit traditionell viele Kinder von Tür zu Tür, musizierten oder trugen Lieder oder Gedichte vor. Sie erhielten dafür Äpfel, Nüsse, Mehl oder auch ein paar Pfennige.
Foto: LWL-Alltagskulturarchiv/Dietmar Sauermann
Westfalen-Lippe (lwl). Wenn um die Wende zum 17. Jahrhundert die "A-solis-Sänger" in Nottuln (Kreis Coesfeld) die Runde machten, war eines klar: Es war Weihnachten. Am Heiligabend und an den beiden Weihnachtsfeiertagen zog eine Gruppe von Sängern im Zentrum der münsterländischen Stadt von Haus zu Haus und sang eine lateinische Hymne. Welche weiteren Heischebräuche und Armenbescherungen es früher während der Advents- und Weihnachtszeit in Westfalen-Lippe gab, welche Rolle dabei unter anderem Cigarrenabschnitt-Sammel-Vereine spielten und wie Wohltätigkeit und frühe Emanzipation zusammenhängen, wissen die Alltagskulturforscher:innen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).
Von den Stiftsdamen erhielten die Sänger in Nottuln Bier und ein Trinkgeld. "Die Bürgerinnen und Bürger werden wohl auch etwas gegeben haben, aber das ist in den Quellen nicht belegt", erklärt Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Kommission Alltagskulturforschung beim LWL. Damit nennt sie auch ein Problem der Alltagsgeschichtsforschung: "Das, was wir beispielsweise über die Rituale vergangener Zeiten wissen, ist ja nur ein kleiner Teil dessen, was wirklich stattgefunden hat. Vieles hat sich leider in den schriftlichen Quellen nicht niedergeschlagen und ist deshalb über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten."
Heischebräuche
Von der Adventszeit bis Dreikönige zogen überall in Westfalen Erwachsene, Jugendliche oder Kinder von Tür zu Tür, um dort zu "heischen": Sie sangen ein paar Weihnachtslieder, trugen Reime und Gedichte vor und erhielten dafür, was die Haushalte entbehren konnten, vor allem Äpfel und Nüsse, manchmal auch Gebäck oder den ein oder anderen Pfennig. "Im Paderborner Land und im Minden-Ravensbergischen Raum war auch das Heischen um Mehl sehr verbreitet", weiß Cantauw. "Diese Art von Heischegängen erkennt man auf Fotografien daran, dass jedes Kind einen kleinen Mehlsack bei sich trug. Das gesammelte Mehl wurde in den Haushalten zu Weihnachtsgebäck verbacken." Mancherorts waren es auch bestimmte Berufsgruppen, die für ihren Dienst an der Allgemeinheit durch das Heischen eine Art Gratifikation erhielten. So ging in Versmold(Kreis Gütersloh) in der Adventszeit der Nachtwächter von Hof zu Hof, blies auf seinem Horn und erhielt dafür eine Wurst.
Wohltätigkeit
Wohltätigkeit - ob nun durch Heischen eingefordert oder nicht - war in vergangenen Jahrhunderten aus der Advents- und Weihnachtszeit nicht wegzudenken. Elisabeth-, Vinzenz- und katholische oder evangelische Frauenvereine, einzelne Pfarrer oder ganze Kirchengemeinden organisierten Bazare, Bescherungen, Konzerte, Tombolas oder Sammlungen für arme Kinder und Familien. "Zum Besten der Armenbescherung" fand beispielsweise 1888 in Hagen-Haspe ein Konzert im Hotel Weber statt. Der ortsansässige gemischte Chor, "unterstützt durch geschätzte Dilettanten", trat auf. Man wünschte sich in "Anbetracht des guten Zweckes (â¿Š) ein volles Haus".
Von allen Veranstaltungen auch nur mit wenigen Zeilen zu berichten, war für die Lokalredakteure gar nicht so leicht. Sie listeten die vielen verschiedenen Aktivitäten in einem längeren Beitrag auf. Das war auch vielerorts gar nicht anders möglich, existierten 1871 beispielsweise allein in Minden 16 Privatvereine, deren Vereinszweck die Wohltätigkeit war.
In Iserlohn (Märkischer Kreis) veranstaltete der Kinder-Missionsverein 1893 eine Weihnachtsbescherung für arme Kinder. Und der örtliche Frauenverein sorgte für eine Bescherung für arme Witwen und ihre Kinder, bei der insgesamt 154 Personen Geschenke erhielten. Außerdem wurden 100 Familien Geschenke ins Haus gebracht. Was diese mildtätigen Gaben enthielten, darüber erfuhren die Leserinnen und Leser des Iserlohner Kreisanzeigers nichts. Aus anderen Quellen weiß man, dass es sich vielfach um Strümpfe, Kleider, Stoff, Schiefertafeln und anderen Schulbedarf, Schuhe oder Äpfel, Nüsse und Kuchen handelte. Auch Sportvereine wie der Hörder Fechtverein oder gemeinnützige Vereine wie die Cigarrenabschnitt-Sammel-Vereine aus Iserlohn und Münster veranstalteten in der Advents- und Weihnachtszeit Bescherungen. Die Mitglieder dieser Vereine sammelten abgeschnittene Zigarrenenden, ließen daraus neue Zigarren herstellen und versteigerten diese für den wohltätigen Zweck. In Iserlohn wurden auf diese Weise "110 Kinder mit vollständigen Anzügen bedacht" (Iserlohner Kreisanzeiger 20.12.1893).
Die Geschenke waren praktisch und bestanden ausschließlich aus Lebensmitteln oder Nützlichem. "Das war im 19. Jahrhundert durchaus üblich", so Cantauw. "Knechte, Mägde und Dienstboten erhielten in den Haushalten zu Weihnachten Holzschuhe, Socken, Stoffe, Hemden, Bettwäsche, eine Schürze oder ein Kleid. Auch gab es in manchen Haushalten noch ein kleines Geldgeschenk. Hier deutet sich eine Parallele zu den Armenbescherungen an."
Bürgerliche Tugend mit Ziel Emanzipation
Wohltätigkeit war nicht nur ein Gebot christlicher Nächstenliebe, sondern etablierte sich auch als bürgerliche Tugend. "Für manche bürgerlichen Frauen steckte im ausgehenden 19. Jahrhundert aber noch mehr dahinter: Sie verbanden mit der Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen und verschiedenen oft vereinsmäßig organisierten Unterstützungsangeboten auch das Ziel einer Berufstätigkeit und Emanzipation", so Cantauw. "Indem sie 'geistige Mutterschaft' an den Armen übten, entwickelten sie die tätige Nächstenliebe zu einer eigenen gesellschaftlich anerkannten weiblichen Kulturaufgabe, die - besonders interessant für ledige Frauen - eventuell in eine berufliche Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege münden konnte." Anhand der bürgerlichen Frauen zeige sich sehr deutlich, dass Wohltätigkeit ein gesellschaftlich gewolltes Geben und Nehmen war (und ist). Die Armut der Unterprivilegierten habe es den Bessergestellten ermöglicht, sich wohltätig zu zeigen und gleichzeitig durch ihr Tun die Gesellschaft zu stabilisieren, so Cantauw weiter. "Als Christen versprachen sie sich von ihren mildtätigen Gaben eine Fürbitte der Armen; als Bürgerinnen und Bürger dachten sie sicher auch an ihr Ansehen in der Gesellschaft, wenn sie sich für arme Waisenkinder einsetzten. Dass die Anstrengungen der wohltätigen Frauen für die Armen nicht völlig selbstlos waren, entspricht dem Gesetz von Gabe und Gegengabe."
Adventsbazare wie hier in Nienberge (um 1960) erfreuten sich auch im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Dort wurde und wird Selbstgefertigtes für einen guten Zweck verkauft.
Foto: LWL-Alltagskulturarchiv/Adolf Risse
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Markus Fischer, LWL-Pressestelle, Telefon: 0251 591-235 und Christiane Cantauw, LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen, Telefon: 0251 83-24404
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