11.06.14 | Kultur Westfalens Schüler feiern ihr ¿Einjähriges¿
Volkskundliche Kommission des LWL auf den Spuren eines fast vergessenen Begriffs
Obwohl der einjährige Freiwilligendienst bei der Armee 1925/26 längst abgeschafft war, konnten diese Schüler der Oberrealschule Hagen mit der Bezeichnung "Einjähriges" noch etwas anfangen.
Foto: LWL-Archiv/Tell
¿Die Bezeichnung ¿Einjährige` kommt ursprünglich aus dem Bereich des Militärs. So nannte man die jungen Männer, die sich nach Abschluss der mittleren Reife freiwillig zum Militärdienst gemeldet haben¿, erklärt Cantauw. Die Möglichkeit zum Einjährig-Freiwilligen Militärdienst wurde in Preußen 1814 geschaffen. Schülern, die die Klasse 10 eines Gymnasiums oder einer kaufmännischen Realschule mit Erfolg abgeschlossen, also die mittlere Reife erlangt hatten, wurde damit die Möglichkeit eröffnet, ihre Militärdienstzeit zu verkürzen. Die gängige Bezeichnung für diese Soldaten war ¿Einjährige¿ oder ¿Einjährig-Freiwillige¿.
Ihre Ausrüstung, Verpflegung, Unterkunft und Kleidung mussten sie selbst finanzieren. ¿Neben der verkürzten Dienstzeit gab es aber weitere, nicht zu unterschätzende Vorteile: Nachdem die ¿Einjährigen` ihr Jahr beim Militär beendet hatten, wurden sie als Reserveoffiziere eingestuft, das war eine Position mit hohem gesellschaftlichen Ansehen¿, so Cantauw. Nicht zuletzt erhöhte der einjährige Freiwilligendienst beim Militär in Kombination mit dem Schulabschluss die beruflichen Aussichten vor allem für diejenigen, die es auf eine Beamtenlaufbahn abgesehen hatten. ¿Nach dem Ende des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1918 wurde der Militärdienst der Einjährig-Freiwilligen abgeschafft. Der Begriff ¿Einjähriges` war jedoch bereits in den zivilen Sprachgebrauch übergegangen. Aus diesem Grund wurde die mittlere Reife noch lange Zeit ¿das Einjährige` genannt¿, erklärt Cantauw.
Die Bierzeitung im Volkskundearchiv zeigt, dass der Schulabschluss 1927 ebenso wie heute ein besonderes Ereignis im Leben der jungen Erwachsenen war, dem sie eine sehr aufwändig gestaltete Bierzeitung widmeten. Ein Blick in die handschriftlich verfasste Abschlusszeitung aus Warendorf lässt darauf schließen, dass viel Arbeit und Mühe in ihr stecken. Alle Seiten sind mit selbstgezeichneten Bildern versehen. Enthalten sind Anekdoten über die Lehrer (¿Unsere Pauker¿), humorvolle Verse zu jedem Mitschüler, Gedichte über das Schülerleben und fiktive Anzeigen nach dem Muster: ¿Suche Stellung als I. Vorarbeiter bei den Arbeitslosen. Prima Zeugnisse abhanden gekommen¿. Dass es beim Schulabschluss sehr ausgelassen zuging, lassen die folgenden Zitate vermuten: ¿Wer niemals einen Rausch gehabt hat, wird aufgefordert, noch heute zum Wohle der Menschheit ein braver Mann zu werden¿ und ¿Strengstens verboten ist, mit belegten Butterbrötchen oder Salzheringen zu werfen¿.
Auch in diesem Monat feiern wieder viele Schüler in Westfalen ihr ¿Einjähriges¿ ¿ nur ist dieser Begriff mittlerweile fast in Vergessenheit geraten. Die Bezeichnung für Schulabgänger mag sich im Laufe der Zeit verändert haben - ähnlich ausgelassen wie bei der Abschlussklasse von 1927 wird es wohl bei den diesjährigen Feiern trotzdem zugehen.
Titelblatt der Bierzeitung der Einjährigen aus Warendorf, 1927.
Foto: LWL-Archiv
Die Zeichnungen in der Bierzeitung der Einjähri-gen aus Warendorf äußern auf lustige Weise auch Kritik an Reglementierungen durch die Lehrer.
Foto: LWL-Archiv
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